Nur als Bettler hatten sie eine Chance. Als Bettler erkannte ihn vielleicht niemand, er konnte sich umhören: Er kannte die Namen, nach denen er fragen musste. Er konnte seine Gegner heimlich beobachten.
Die drei Zahlen sagten ihm nichts und im Gegensatz zu Christoph hielt er es für völlig sinnlos, über ihre Bedeutung zu grübeln. Christoph war voller Hoffnung, es herauszufinden, und sprach fast über nichts anderes. Er war so eifrig, wenn er darüber sprach. Seine Augen glänzten dann. Es war schön zu hören und zugleich schmerzlich.
Was für Motive konnten die Kaufleute haben, einen Konkurrenten umzubringen? Es ging hart zu im Geschäftsleben. Aber es gab unter Kaufleuten eine Grenze, die niemand überschritt. Ja, es war üblich, dass Kaufleute einander halfen, und Kaufleute aus einer anderen Stadt galten den Einheimischen als Gäste. Jeder Trick war recht dem anderen ein Geschäft wegzunehmen, ja, ihn sogar geschäftlich zu ruinieren, wenn er dumm genug war. Aber ihn körperlich zu vernichten, das vertrug sich nicht mit der Ehre des Kaufmannstandes. Das war ganz undenkbar.
Dennoch war es hier geschehen.
So reichte das Streben nach Gewinn nicht als Erklärung aus. Es war auch kein Geschäft zu erkennen, das sie damals auf seine Kosten hätten machen können, indem sie ihn ausschalteten. Er überschaute alle wichtigen Geschäfte, die es damals gab, aber keines würde ein solches Verbrechen erklären. Sein geschäftlicher Tod schaffte vielen Kaufleuten einen gefährlichen Konkurrenten vom Hals, viele schuldeten ihm Geld. Dennoch musste noch sehr viel dazukommen, bis ein derartiges Verbrechen geschah.
Was war das Hauptmotiv des Verbrechens? Da konnte er sich nur Macht denken! Nach Reichtum streben durfte jeder Mensch, wenn auch nicht auf verbrecherische Weise. Auch nach Macht durfte man streben, vor allem wenn man ein Fürst oder ein hoher Kleriker war. Aber Streben nach Macht, um Reichtum zu erlangen, oder Reichtum, um Macht zu erlangen – das sah er deutlich: Das konnte jeden zum Verbrecher machen. Ein solches Streben nach Macht musste hinter den drei Zahlen stecken.
Es musste eine gewaltige, eine riesengroße Macht sein, wenn solche Verbrechen dafür begangen wurden.
Das Wort Schwarzwald klang gefährlich. Christoph kannte selbst die Wälder um Stuttgart kaum. Es sollte dort tiefe, geheimnisvolle Stellen geben, die man besser mied. Kinder seien dort am hellen Tag einfach verschwunden, erzählte man sich. Schlief man ein im Wald, so kamen Libellen und nähten einem Lippen und Nase zu, dass man ersticken musste. Auch in den Feldern um Stuttgart konnte es gefährlich sein. In den Ährenfeldern lauerte die Kornmuhme und zog einen unter die Erde. Die Regenfrau sang in den Wiesen am Neckar und verwirrte die Wanderer.
Viel wurde vom Schwarzwald erzählt. In den großen Waldschluchten lebten gefährliche Tiere, wie Wölfe, Bären, Luchse, Füchse und Wildschweine, die Menschen fraßen. In solchen Wäldern hausten böse Geister. Zwerge saßen an den Wurzeln der Bäume und führten Wanderer in die Irre, ebenso wie die Irrlichter, die bei nächtlichen Gewittern in den Mooren tanzten. Riesen brachen nachts Bäume und stürzten sie auf Menschen. In den Klüften hausten Dämonen, die Kinder einfach mitnahmen, durch die Lüfte entführten und sie in einem fernen Land zu Sklaven machten. Nachts brannten in diesem riesigen Wald geheimnisvolle Feuer, von denen niemand wusste, wer sie angezündet hatte und wozu. Er wusste vom Mummelsee, einem pechschwarzen See, unter dessen Wasseroberfläche man am hellen Tag die Hände von Geistern rudern sehen konnte. Warf man einen Stein in diesen See, so brachen fürchterliche Unwetter los.
Er war kein Kind mehr und er wusste, dass nicht alles stimmte, was in den Märchen und Geschichten zu hören war. Aber sicher war vieles richtig.
So war es auch mit diesen rätselhaften Zahlen. Es konnte sich ja nur um Zauberei handeln – was der Vater unbegreiflicherweise bezweifelte. Aber wer zaubern konnte, der hatte Macht über Geister und Menschen. Wenn er, Christoph Schimmelfeldt, zaubern könnte! Zuerst würde er den Vater gesundzaubern, dann würde er schlimme Krankheiten auf die Menschen hetzen, die sie zu Bettlern gemacht hatten und die sie umbringen wollten und vielleicht auch jetzt noch umzubringen versuchten. Wenn man doch nur schon in Straßburg wäre!
»Vater, wann sehen wir denn die ersten Berge, die zum Schwarzwald gehören?«
»Wenn wir von Straßburg aus kommen würden, dann stünden sie längst wie eine mächtige Wand vor uns. Aber von dieser Seite hier gehen wir in den Schwarzwald eigentlich zuerst hinunter, weil wir höher sind als die Täler des Schwarzwalds.«
»Müssen wir durch den ganzen Schwarzwald?«
»Ein großes Stück, weil wir uns verstecken müssen.«
»Ist es im Schwarzwald wie in der Via Mala, von der du uns so oft erzählt hast?«
»Es gibt auch im Schwarzwald Schluchten. Aber sonst ist der Schwarzwald ganz anders als die Alpen und die Via Mala. Die Berge im Schwarzwald sind anders, nicht spitz, sondern lang gestreckt wie Särge. Felsen gibt es kaum.«
»Und Räuber?«
»Alle Menschen meinen seltsamerweise, dass die bösen Menschen in den Wäldern seien. Ich möchte nicht sagen, dass es im Schwarzwald ganz ungefährlich ist, aber ich habe die schlimmsten Menschen in Städten getroffen.«
»Ich war noch nie allein im Wald!«
»Du wirst auch jetzt nicht allein sein.«
Der Ausblick war gewaltig. Unter einem düsteren Himmel stiegen Rauchsäulen über Waldschluchten und Tälern in die graue Luft. Der Rauch hockte zwischen den Bäumen und lastete auf den Lungen. Der Blick war trotz des Dunstes und der rauchigen Luft weit. Hintereinander lagerten sich fahle Höhenzüge. Am äußersten Rand war ein gelber Streifen.
Tagelang waren sie im Nebel gewandert. Zuerst ging es endlos hinab, Christoph musste den Vater stützen, dann kam ein furchtbarer Anstieg, der den Vater fast alle Kraft gekostet hatte. Zwei ganze Tage waren sie anschließend auf schmalen Pfaden durch endlose Wälder und große Moore gegangen. Christoph glaubte, sie hätten damit den Schwarzwald überwunden. Aber der Vater sagte, die höchsten Bergkämme lägen noch weit vor ihnen.
Immerhin hatten sie zum ersten Mal freien Blick.
Wo sie standen, war Viehweide mit schwarzen Pfützen und verwelkten Stauden und Kräutern. Am Abhang, über den sie hinunterschauten, wuchs ein schütterer Wald mit Dickicht von Büschen. Noch weiter unten ragten breite Kronen von dunklen Tannen. Wo die Rauchsäulen aufstiegen, war ab und zu Licht von Feuern.
Christoph fragte atemlos: »Die vielen Feuer, was ist das?«
Er erinnerte sich an die Bäche, die ihnen hangaufwärts entgegengeströmt waren: Ihr Wasser war nicht hell wie das des Neckars. Es hatte eine ungesunde schwarzbraune Farbe, die eher an Jauche erinnerte. Christoph hatte sich fest vorgenommen, von diesem Wasser um keinen Preis zu trinken.
Der Vater war wie so oft ganz abwesend: »Die Feuer, da brauchst du keine Angst zu haben, das sind Köhler, die brennen Kohle. Du kennst ja die schwarzen Kohlenstücke, die auf dem Stuttgarter Markt verkauft werden. Man macht sie aus Holz. Weiter im Süden machen sie auch Glas, auch da gibt es viele Feuer. Fast der ganze Schwarzwald ist voller Rauch.«
»Und das dunkelbraune Wasser, kommt das auch von den Köhlern?«
»Ja, man könnte meinen, es sei Ruß darin. Aber es läuft so aus dem Boden.«
»Ich trinke keinen Schluck davon.«
»Dann musst du verdursten. Es gibt im Schwarzwald kein anderes Wasser, das kommt von den vielen Mooren.«
Christoph erinnerte sich an die gefährlichen Wanderungen über die Moore auf den Höhen. Düster war es gewesen, keinen Schritt durfte man von einem Weg aus Knüppeln abweichen, sonst wurde man vom Moor verschluckt. Weißlicher Dunst stand zwischen den Bäumen. An vielen Stellen war offenes Wasser, schwarz, dazwischen schimmerten die Skelette abgestorbener Bäume. Manchmal flatterte plötzlich ein Wasservogel auf.