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Während die Juden zum Tode geführt wurden, hatte man ihre Häuser ausgeraubt. Manche waren angezündet worden, auch die Synagoge und die Cheder. Aber es kamen Männer vom Magistrat, die sofort befahlen zu löschen, damit das Feuer nicht auf die umliegende Stadt übergriff.

Wenige Wochen später war ein Fest in Straßburg: Ein Brief des Kaisers, der sich gerade in Speyer aufhielt, gewährte allen Bürgern der Stadt Straßburg Straffreiheit für den Mord an den Juden. Er wurde auf allen Plätzen der Stadt vorgelesen und die Menschen jubelten und schrien: »Jetzt ist es gewonnen, jetzt kann uns nichts mehr geschehen!« Ihre Stimmen waren grell, ihre Gesichter verzerrt.

Nachrichten kamen aus dem ganzen Reich – überall hatten die Bürger in den Städten ihre jüdischen Mitbürger, mit denen sie meist Jahrhunderte friedlich zusammengelebt hatten, ermordet. Hunderte jüdische Gemeinden waren ausgerottet worden, so wurde triumphierend berichtet.

Man stieß in den Wirtshäusern darauf an.

Nur in Mainz, so hörte man, hatte der Bischof die Juden schützen wollen, aber der Pöbel, aufgestachelt von Adeligen, Schuldnern der Juden, hatte den Palast des Bischofs gestürmt und die Juden erstochen, verbrannt, im Rhein ertränkt. Die Männer an den Biertischen und die Leute auf der Straße johlten und klatschten Beifall, wenn solche Dinge von Fahrenden in Liedern besungen wurden.

In Regensburg freilich waren die Leute verblendet: Der Rat und der Bischof hatten beschlossen die Juden zu schützen. Ähnlich war es wohl in Prag, wo die Juden auch geschützt wurden.

Die armen dummen Menschen, hörte man in Straßburg.

Christoph und Philo zogen wieder in die alte Behausung an der Ill mit der schiefen Holzgalerie. Das Judenviertel war abgesperrt worden.

Sie erfuhren, dass in einigen der ärmsten Häuser noch die wenigen Juden hausten, die sich hatten taufen lassen. Versteckt hatten sich dort auch einige Frauen und Mädchen, die vergewaltigt worden waren.

»Das heißt, dass man sie erst missbraucht, dann getauft und jetzt ausgestoßen hat«, sagte Philo grimmig.

Aber die wenigen Juden, die vom Feuer verschont geblieben waren, konnte man nicht ansprechen, scheu drückten sie sich in der Judengasse an die Seite. Es war sinnlos, sie nach Esther oder Nachum zu befragen.

Christoph hatte lange gewartet, bis er eines der unglücklichen Geschöpfe traf, Tochter, Braut oder junge Mutter – sie hatte Kopf und Gesicht mit einem langen schwarzen Tuch verhüllt. Er sah einen winzigen Augenblick verschwollene und verängstigte Augen. Es war ein junges Mädchen, das Esther mit Sicherheit gekannt hatte. Aber das Mädchen blieb stumm.

Die Synagoge werde zu einer Marienkapelle gemacht, hieß es, in die größten Häuser zögen jetzt reiche Leute.

»Diebe!«

Löb hatte Christoph einmal gezeigt, wie die Judengasse genau auf den Nordturm des Münsters zuführe, das Viertel der Juden sei schon vor tausend Jahren Mittelpunkt der Stadt gewesen. Es werde gesagt, in der alten Römerstadt sei die Judengasse die Hauptstraße gewesen – schon damals hätten Juden als wichtige Leute darin gewohnt.

»Die reichen Mörder wollen in die alte Mitte der Stadt, auf die sie immer neidisch waren!«, sagte Philo.

Christoph gab keine Antwort. Er hatte seit dem Valentinstag noch wenig geredet. Er grübelte viel.

Die beiden standen am dunklen Mühlkanal, in dem – wie lange war das schon her? – der tote Bettler gefunden worden war.

Es war kalt geworden.

»Weißt du«, sagte Philo, »wenn Abraham und Löb einen Weg gefunden haben, dich zu retten, dann haben sie auch einen Weg gefunden, Esther und Nachum zu retten.«

»Aber warum nicht sich selbst und Löb und die anderen?«

»Viele Juden sterben für ihren Glauben.«

Christoph sagte: »Löb hat einmal erklärt, sonst gehe das Judentum unter. Ich glaube, ich verstehe jetzt ein wenig, was er gemeint hat.«

Es gab so viele Fragen. Unten zog langsam das schwarze Wasser.

»Warum haben sie mich getrennt von den anderen? – Warum haben sie uns nicht gemeinsam gerettet?«

Einzelne Schneeflocken begannen herabzusinken.

»Das Bündel hat mir das Leben gerettet. Ich möchte wissen, ob es überhaupt etwas Wichtiges war. Herr Twinger und seine Frau haben miteinander geflüstert, beide hatten nasse Augen, als ich wegging.«

Christoph trug das Bündel an seinem Gürtel immer bei sich. Man spürte das Gewicht ja kaum.

Sie zogen ein kleines versiegeltes Päckchen aus dem Bündel. Als sie das Siegel gebrochen hatten, fanden sie ein vielfach gefaltetes Pergament, das mit einer abermals versiegelten Kordel umwunden war. Auf dem Pergament stand mit großen lateinischen Buchstaben: Für Christoph.

Christoph bebte die Hand, als er auch dieses Siegel brach und die Kordel löste. Er hielt den Atem an.

Aber es folgte nichts Geschriebenes mehr.

Etwas Hartes fühlte er in ein Seidentuch eingeschlagen, dessen Muster ihm schmerzlich vertraut war: Ein regelmäßiger, rundlicher Klumpen aus sehr klarem Glas, der sich schwer anfühlte, lag in seiner Hand.

Christoph stand verblüfft. Was sollte er mit diesem Glas? Er suchte in dem Tuch. Aber es war nichts mehr darin verborgen. So fasste er keinen Gedanken und starrte auf beides, das Glas und Esthers seidenes Tuch.

»Mensch!«, sagte Philo.

Christoph begriff nicht.

»Der Diamant!«

Christoph erschrak: Es war der Stein, mit dem Nachum den gefangenen Juden Menli aus Bern hatte auslösen wollen! Unendlich wertvoll war dieser Stein! Er war das Wertvollste gewesen, was Löb Baruch besessen hatte.

Sein Glanz!

»Deshalb waren in allen Räumen des Hauses die Böden und die Holzvertäfelungen der Wände aufgebrochen. Diesen Stein haben sie gesucht. Herr Dopfschütz kennt ihn. Er ist kostbarer als alles zusammen, was er hat.«

»Er gehört nicht mir«, sagte Christoph leise, »er gehört Nachum und Esther oder Elieser in Prag, aber nicht mir.«

»Es steht darauf: Für Christoph.«

»Auserwähltsein heißt Pflicht, hat Löb gesagt.«

»Warum haben sie ihn dir und nicht Nachum und Esther mitgegeben? Er hätte ihnen doch unendlich hilfreich sein können auf ihrer Flucht und zum Neuanfang im Osten«, überlegte Philo.

Christoph presste die Hände zusammen: »Der Gedanke ist schlimm, dass es ihnen wahrscheinlich zu unsicher war.«

»Ja, das könnte es auch sein«, sagte Philo und setzte sich auf einen Holzpflock; die Flocken fielen dichter. »Sie wollten auf keinen Fall, dass er einem ihrer Peiniger in die Hände fiel.«

Sie schauten lange in den wirbelnden Schnee.

»Ich muss sie finden.«

Die Stadt drüben wurde unsichtbar.

Das seidene Tuch war von Esther, der Stein hatte ein wunderbares Leuchten. Er war wie eine schöne Melodie in der Schneeluft, so klar, so rein!

DER SPEICHER

»Wenn du den Stein zurückgeben willst, musst du deinen Fall in Straßburg bald lösen, oder wir gehen gleich gemeinsam in den Osten, wo man dich nicht kennt. Wir kommen schon durch. Aber du darfst nicht mehr stundenlang den Stein und das Tuch anschauen.« Philo hatte seine Bälle in der Hand.

Sie beschlossen nach langem Hin und Her, dass sie vorerst in Straßburg bleiben sollten: »Mein Vater ist dafür gestorben.«

Vieles war seit dem letzten Frühjahr erreicht worden: Sie kannten die Mörder des Vaters, nämlich Herrn Dopfschütz und seine Verbündeten. Sie wussten, warum alles geschehen war – dass Herr Dopfschütz und einige andere Macht erringen wollten mit einem Substrat, mit dem sie ganze Türme bis auf den Grund zerstören konnten, mit dem sie vielleicht noch weitere schreckliche Dinge anrichte konnten. Sie kannten auch das Substrat und hätten es nach den damals so rätselhaften drei Zahlen und den Zutaten sogar herstellen können. Sie wussten, dass Herr Dopfschütz für diese Macht sehr viel Geld bei Löb aufgenommen hatte und sie vermuteten, dass die Juden in Straßburg wegen dieses Geldes geopfert worden waren.