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Draußen prasselte ein Graupelschauer gegen die brüchigen Wände. Vom Dach tropfte es herab, obwohl sie versucht hatten die Löcher zwischen den Ziegeln zu verstopfen. Philo hatte sogar einige Dachziegel angeschleppt, aber nur auf dem kleinsten Teil des Daches waren Ziegel. Der größere Teil war mit vielen Lagen von zerfetztem und fauligem Stroh gedeckt und hier war jede Mühe vergebens. Sie hatten an manchen Stellen Bretter dazwischengeschoben, der Regen rann durch die Spalten.

Bald würde mit dem Mai die warme Jahreszeit beginnen. Aber mit der Wärme komme die Pest, hieß es.

»Vielleicht schaffen wir es ja noch vor der Pest. Dann gehen wir zu Regine und Balthas und warten dort ab«, sagte Christoph zuversichtlich.

»Ich bin überzeugt, dass der Beweis, den wir suchen, im Speicher des Herrn Dopfschütz ist, und zwar in dem verschlossenen Lattenverschlag, von dem ich dir erzählt habe. Also müssen wir in den Speicher.«

»Was kann es sein?«

»Keine Ahnung. Auch mein Verhör hat darüber keinen Aufschluss gebracht.«

»Vielleicht sind es Briefe von den Stuttgarter Kaufleuten, die meinen Vater verraten haben.«

»Würde er die in einem Speicher aufbewahren?«

»Würde er sie überhaupt aufbewahren?« Christoph überlegte. »Ja, ich glaube schon. Mein Vater hat immer gesagt: Ein guter Kaufmann wirft niemals etwas weg, vor allem nichts Geschriebenes.«

»Vielleicht ist es etwas Schweres oder etwas Sperriges, etwas, das man in einem Haus nicht leicht verstecken kann, wenn es notwendig wird.«

Wie sehr sie auch grübelten, sie konnten sich nicht vorstellen, was sie in dem Speicher finden könnten.

Manchmal stand Christoph allein auf der morschen Brettergalerie ihres schiefen Hauses. Stimmen waren dann zu hören, die leise Stimme Abrahams, die ernste Stimme Löbs, die trotzige von Nachum und das Lachen von Esther. Wenn man die Augen zumachte, war dieses Lachen ganz nah. Esther sagte: ›Christoph, mein weißer Elefant‹. Spürte er nicht ihre Hand und ihren Atem! Ganz still musste man stehen. Man konnte mit diesen Stimmen reden. Man konnte die Menschen sehen: Lächelnd kamen sie um die Ecke bei der Synagoge und beim Judenbad. Sie saßen am Vorabend des Sabbats um den Tisch in der großen Stube und tranken ihm zu, auch sein Vater saß dabei, fröhlich und mit erhobenen Armen. Es war dann auch manchmal das Klingen der Goldstücke im Rauschen des Regens zu hören.

Oft konnte er nur einschlafen, wenn er Esther fest an sich drückte, wenn er ihren Atem hörte, wenn er still weinte.

Es gab auch Tage, da konnte er nicht hören, wie Esther ›Christoph‹ sagte. Er horchte dann und horchte und formte ihre Worte mit seinem Mund, aber er konnte sie nicht hören.

Wenn er sie nie mehr sehen würde –

Die Leere in ihm war dann wie eine offene Wunde.

Der Mai war regnerisch und kalt und kam und ging, und die Pest blieb aus. Aber mit der steigenden Sonne stieg die Angst. Der Juni brachte einige glühend heiße Tage, welche die Angst aufkochten, aber dann kam die Schafskälte und hielt die Pest fern.

Wie unter einem unausweichlichen Schlag, der nicht fallen wollte, war die Stadt geduckt.

Die Geißler waren allgegenwärtig. Auf allen Straßen waren Gruppen von ihnen mit ihrem Singsang, umstanden von weinenden Frauen mit ihren Kindern. Es hieß, ihre Zahl gehe bereits in die Tausende.

Die Kerzenmacher und Wachszieher machten große Geschäfte: Die Kirchen waren überfüllt und voller Kerzenqualm und Weihrauch. Es gab Menschen, die auf einmal so fromm wurden, wie es niemand von ihnen gedacht hätte, und es gab Fromme, die nur noch in den Wirtshäusern hockten und ihr Geld verspielten.

Viele Häuser waren leer – viele Menschen waren geflohen: in die Vogesen, in den Schwarzwald, nach Speyer, Worms, Freiburg, Basel, obwohl jeder wusste, dass dies Unsinn war, weil die Pest in alle Städte kommen würde.

Wer nicht geflohen war, nicht im Wirtshaus saß oder nicht in einer Kirche betete oder abwechselnd das eine und das andere versuchte, den litt es trotzdem nicht zu Hause. Man trieb sich auf den Straßen herum, immer begierig das Neueste zu hören. Mit Herzklopfen wartete man auf die ersehnte Nachricht, die Pest sei jetzt heilbar. Und man hörte diese Nachricht jeden Tag in immer anderer Gestalt an jeder Straßenecke, aber niemand glaubte sie wirklich. Dennoch stand man gleich darauf schon wieder an der nächsten Ecke und hörte einem Wichtigmacher zu: So und so könne man den schwarzen Tod leicht heilen.

Berge von Gold hätte der Frosch mit seinen falschen Alraunen verdienen können. Christoph und Philo hielten vergebens nach ihm Ausschau.

Von Menschen wurde berichtet, die von der Pest befallen und wieder gesund geworden seien. Alle hörten gebannt zu, alle wollten es glauben, niemand glaubte es wirklich und doch klammerte sich jeder daran.

Christoph wusste von Abraham und der alten Esther, dass in Spanien tatsächlich von der Pest befallene Menschen wieder gesund geworden waren.

Auf allen Straßen und Plätzen der Stadt drängten sich die Massen wie bei einem Jahrmarkt. Nachts wälzten sich die einen schlaflos im Bett, die anderen lagen bewusstlos im Alkoholrausch. Die Stadthuren in der Paradiesgasse hatten Zulauf wie noch nie.

Die Leute standen in langen Reihen vor den Buden der Wahrsager. Jeden Tag wurden Wahrsager vom Rat aus der Stadt gewiesen, aber am anderen Tag waren sie wieder da und lasen den Leuten aus der Hand, aus gläsernen Kugeln oder aus Ruß. Hoffnung hatte, wer sie verließ – aber am nächsten Tag war diese Hoffnung schon vergangen und der Verängstigte hockte bei einem anderen Wahrsager.

Wer Schuhe zum Flicken gab, wusste nicht, ob sein Flickschuster am anderen Tag noch in der Werkstatt war, ebenso war es bei den Bäckern und Metzgern. Die Metzig, das große Schlachthaus an der Schindbrücke, auf der es immer nach Blut roch, hatte tageweise geschlossen. Das Kaufhaus war verrammelt. Die Brotbänke beim Rathaus standen zum großen Teil leer, die Buden auf der Schindbrücke waren fast alle geschlossen. Die Wirtshäuser waren überfüllt, der Rat erließ immer neue Verbote, die niemand mehr beachtete und die kaum mehr kontrolliert wurden. Betrunkene taumelten durch die Gassen.

Die Bettler bekamen ganze Hände voll Geld, Silber und Gold, als wollten sich die Reichen vom Tod freikaufen.

Nachts, so hörte man, wurde in die Häuser der Geflohenen eingebrochen. Die Diebe hatten eine große Zeit. Die reichen Kaufleute ließen ihre Speicher bewachen, denn die Speicher waren gefüllt, weil der Handel durch die drohende Pest zunehmend zum Erliegen kam. Aber oft liefen die Wachen davon oder sie selbst plünderten die Speicher aus, die sie bewachen sollten.

Prediger standen an den Ecken der Gassen und Straßen, Mönche, Bettler, Bürger, und verkündeten das Ende der Welt.

Im Gewimmel der verängstigten Stadt wirkten die Gassen um den Speicher des Herrn Dopfschütz wie ausgestorben. Bewaffnete schritten langsam auf und ab. Immer zwei standen am Tor und wurden in der Nacht abgelöst.

»Herr Dopfschütz ist vorsichtig«, nickte Christoph anerkennend, »bei ihm ist nie eine Wache allein, so können sie sich gegenseitig kontrollieren.«

»Für uns ist das schlecht. Aber wir müssen in diesen Speicher hinein, und mit Goliath geht es nicht mehr.«

Tags war es unmöglich. Aber auch nachts war es gefährlich. Christoph konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie man in ein so festes und bewachtes Gebäude kommen konnte. Philo schlug vor die Umgebung genau zu betrachten.

Der Speicher stand im übelsten Teil des Gerberviertels, einem kleinen tief gelegenen Areal, das oft überschwemmt wurde und das der Rat deshalb abreißen lassen wollte, um das ganze Gebiet aufzuschütten und neu zu bebauen. Er lag auf bereits aufgefülltem Grund und war ein grauer, massiver, recht hoher Steinbau mit einem steilen Dach, das von langen Reihen unzähliger Gauben besetzt war. Er war ganz vergittert, die Fenster hinter den Eisengittern oft mit Brettern verschlagen.