Es hieß, Herr Dopfschütz habe ihn vor kaum zwei Jahren von der Stadt gekauft. Jeder habe sich gewundert, weil er für die Zwecke eines Kaufmanns viel zu groß sei.
Eine kurze gepflasterte Gasse führte als Zufahrt aufwärts zu seinem eisenbeschlagenen Portal. Hier stand die Doppelwache.
»Von hier aus ist nichts zu machen.«
Dieselbe Gasse ging dann an der Längsseite des Speichers entlang und mündete auf der Rückseite des lang gestreckten Gebäudes in eine andere Gasse. Beide Gassen waren dunkel, umstanden von längst unbewohnten Häusern, in deren Fensterhöhlen Unkraut wucherte, von Bretterverschlägen und Gerberschuppen. Überall waren noch die Stangen und Seile zu sehen, an denen einst Tierhäute zum Trocknen aufgehängt worden waren, aber alles war längst unbrauchbar geworden, die Stangen durchgebrochen, zerfetzte Seile hingen herab. Abfälle und Kot hatte man bedenkenlos hingeworfen, überall faulte es, wuchsen Gras und Unkraut, Ratten huschten durch die Nässe. Nur die Zufahrt zum Speicher war gesäubert.
Dunkel war auch der Hof, der sich auf der anderen Längsseite des Speichers zu einem finsteren Gebäude hinzog. Es war die Rückseite eines sehr großen, baufälligen Hauses, das mit seinem Giebel fast rechtwinklig so an die Seite des Speichers stieß, dass die Dächer der beiden Gebäude miteinander verbunden waren. In dem Hof, in den das ganze Jahr kein Sonnenstrahl fallen konnte, stand allerlei unbrauchbar gewordenes Gerät.
Sie wussten, dass hinter diesen Gassen nach wenigen Reihen ebenso verfallener Häuser Gemüsegärten kamen, die sich bis an die Stadtmauer zogen.
Der Vordergiebel des finsteren Hauses schaute auf eine ganz andere Gasse. Sie war gepflastert und viel breiter, hier waren die Häuser in besserem Zustand, die meisten bewohnt. Hier in der Nähe der Ill war Leben. Die düstere Vorderseite des leeren Hauses mit seinen vernagelten Fenstern passte nicht zur freundlicheren Umgebung. Man sah, dass es ursprünglich ein Adelssitz, ein Kaufmannshaus und erst dann wohl ein Gerberhaus gewesen war: Am steinernen Torbogen war ein verwaschenes Wappen eingemeißelt.
Im Giebel waren Holzgalerien, die aus irgendeinem Grund zugemauert worden waren. An einer Stelle war die Last der Steine zu schwer geworden und das morsche Gebälk war heruntergebrochen, die Mauer war nachgerutscht, sodass an dieser Stelle eine Menge Steine in der Wand fehlten, die wohl auf die Gasse gestürzt waren.
Seile und Stangen gingen von den vermauerten Galerien über die Gasse hinüber zum Nachbarhaus, von wo aus sie mit Tierhäuten behängt wurden.
Christoph und Philo waren von den Wachleuten misstrauisch beäugt worden, als sie mehrfach um den Speicher strichen. Aber keiner hatte sie angesprochen.
»Ich hätte schon eine Ausrede gewusst«, sagte Philo. »Ich hätte einfach erzählt, dass meine Tante hier im letzten Sommer eine kostbare Schmucknadel mit Juwelen verloren habe und immer noch suchen lasse. Natürlich gegen Belohnung, und da ich gerade kein Geld hätte – «
»Hör auf«, lachte Christoph und hielt sich die Ohren zu.
»In dem hinteren Hof mit dem Gerümpel und dem verlassenen Haus müssen wir ansetzen«, schlug Philo vor.
»Vielleicht gibt es einen Zugang von diesem Haus zu dem Speicher, sie sind ja zusammengebaut.«
»Es ist möglich. Wir werden sehen, heute Nacht gehen wir in das verlassene Gerberhaus und versuchen von dort in den Speicher zu kommen.«
»Denn da vorne an der breiten Gasse steht keine Wache.«
DIE PEST
Werkzeuge wollte Philo beschaffen; aber er war nicht wiedergekommen.
Christoph war unruhig. Gerüchte schwärmten durch die Stadt: Die Pest sei ausgebrochen in der Stadt am achten Tag des Monats Juli, am Fest des heiligen Kilian. Im Viertel der Müller gegenüber dem Gerberviertel habe ein Kind Fieber bekommen, schwarzblaue Beulen hätten sich gebildet. Der Rat habe Nachforschungen anstellen lassen, es habe sich aber niemand gefunden das kranke Kind zu untersuchen.
Andere sagten, Ärzte hätten das Kind wirklich untersucht, und es sei ohne den geringsten Zweifel die Pest, die Beulenpest, die man aus Italien und Spanien kenne, der schwarze Tod. Niemand betrete mehr das Viertel der Mühlen. Andere sagten, das Kind sei schon gestorben gewesen, als die Ärzte in das Haus des Müllers gekommen seien.
Es wurde auch gesagt, der Müller habe einen Gesellen aus Luzern beherbergt, der habe die Pest mitgebracht.
Rasch vermehrten sich die Gerüchte. Der schwarze Tod sei jetzt schon im Viertel der Bäcker. Der Rat habe verboten, dass die Viertel der Mühlen und der Bäcker verlassen werden dürften. Niemand dürfe auch diese Viertel betreten. Wie das aber geschehen sollte, wisse niemand: Wie sollten die Gesunden mit Brot versorgt werden? Andere sagten, das sei alles falsch, die Pest sei jetzt auch in anderen Stadtvierteln aufgetreten, und der Rat habe die Verordnung wieder zurückgenommen. Auch wurde gesagt, die Verordnung, dass einzelne Stadtviertel nicht mehr betreten werden durften, habe es nie gegeben.
Auch über die Krankheit selbst hörte Christoph die unterschiedlichsten Meinungen: Manche sagten, sie beginne mit Fieber und dann kämen erst die Beulen und die Schmerzen unter den Achseln und in den Leisten. Andere sagten, es sei alles genau umgekehrt, und wieder andere sagten, die Pest beginne mit Husten und Niesen, und erst ganz zum Schluss, wenn das Fieber schon ganz unerträglich sei, träten die Beulen auf.
Christoph hörte einen sagen, das sei alles unwichtig, jeder werde ja selbst sehen, wie die Pest verlaufe. Er mache aber die größte Wette, dass dies dann jedem völlig gleichgültig sei.
Christoph war zuerst wie gelähmt, als vom Auftreten der Pest berichtet worden war. Er hockte in seinem schiefen Haus und zählte die Spinnweben. Aber der Hunger und seine Ungeduld trieben ihn wieder hinaus in die Stadt, auch hoffte er endlich Philo zu finden, der jetzt schon seit Tagen verschwunden war.
Wie hatte sich die Stadt verändert! Öde wie ausgefegt waren die Gassen und Plätze. Nur an der Ill und vor dem Münster hockten wie Schatten einzelne Bettler. Niemand hätte ihm jetzt einen Platz streitig gemacht. Menschenleer waren der Münsterplatz, der Fischmarkt, der Holzmarkt, der Weinmarkt, der Krautmarkt, die Spießgasse, die Blauwalkergasse, der Fischerstaden, der Metzgergraben, das Viertel der Gerber und das der Mühlen. Die Schläge der Turmuhren klangen laut wie nie, die Schritte hallten. Das Gebimmel der Totenglocken nahm kein Ende.
Die wenigen Menschen wichen einander aus.
Christoph machte einen Bogen um die Menschen wie sie um ihn. Woher kam die Pest? Niemand wusste es. Aus der Luft? Aus dem Wasser? Aus der Nahrung? Von anderen Menschen? Keiner konnte es sagen. Ein Erdbeben in Italien sei die Ursache, war von einigen schon vor dem Mord an den Juden gesagt worden, als Herr Wangenbaum von den vergifteten Brunnen gesprochen hatte. Ungünstige Stellung der Sterne, unreine Säfte im Menschen, widrige Südwinde und viele andere Dinge wurden verantwortlich gemacht.
Man könne die Pest bekommen, nur weil man Angst vor ihr habe. Ja, das bloße Reden von der Pest könne die Krankheit auslösen.
Dass die Seuche sehr ansteckend war, wusste jeder.
Woher kamen die Gerüchte, die durch die Stadt gingen wie die Seuche selbst? Kaum jemand redete mit dem anderen, und dennoch: Der eine flüsterte im Vorübergehen, der andere nickte stumm und flüsterte es dem nächsten zu. Zeichen, mit den Händen gemacht, wurden verstanden und weitergegeben. Durch vorgehaltene Tücher, die man in Essig getaucht hatte, wurde getuschelt und geschwatzt. Bei den Brunnen, bei den wenigen Bäckern, die noch arbeiteten, und an den dünn besetzten Fleischbänken stieß man auf Menschen, vermummt und stumm, und dennoch liefen die Gerüchte immer weiter durch die Stadt.