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Laut verlesen wurden die Verordnungen des Rates – es gab jeden Tag neue: Zwiebeln könnten gegen die Pest helfen. Man solle ausgehöhlte Zwiebeln auf die Beulen legen, dann würden sie weich und könnten sich öffnen.

Die Toten durften nicht mehr in den Kirchen aufgebahrt werden, sie durften auch keine vierundzwanzig Stunden mehr in einem Hause sein, sie mussten sofort begraben werden. Die Totengräber kamen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach: Die Standesgenossen mussten die Toten begraben.

Es hieß aber, in vielen Häusern lägen unbeerdigte Tote, die vergifteten die Luft weiter. Nicht einmal die nächsten Verwandten würden sich um sie kümmern: Es wurde erzählt, Familienmitglieder ließen Pestkranke allein, wenn sie die Krankheit bemerkten, mit dem Vorwand, sie holten einen Arzt. Dann schlossen sie die Türen ab und kämen nicht mehr wieder. So müsse der Kranke an der Pest sterben oder verhungern.

Es wurde auch berichtet, dass mancher einen Pestkranken versorgt habe und dann selbst einsam und unversorgt an der Pest gestorben sei.

Viele Kinder waren in der Stadt, die niemand mehr haben wollte – elende Gestalten, halb verhungerte Gesichter, bleich, hohläugig und zerlumpt, lebten sie, ganz ausgesperrt, vom Betteln und Diebstahl. Niemand war mehr da, der für sie sorgte, wenn sie die Seuche bekamen. Unter Brücken oder in verlassenen Häusern fand man dann ihre Leichen. Kaum jemand war da, der sie begrub.

Es gab Pesthäuser, in denen alle gestorben waren. Der Rat ließ mit Kreide große Kreuze auf Türen und Fenster malen.

Mit der Zeit wurden die Verordnungen des Rats seltener. Viele Ratsherren seien gestorben und noch mehr seien geflohen.

Christophs Angst wuchs täglich, dennoch litt es ihn nicht in der Einsamkeit seiner schiefen Behausung.

Es hieß, man merke es erst nach Tagen, wenn man angesteckt sei. Erst dann breche die Krankheit aus, bis dahin trage man sie bei sich wie ein heimliches Todesurteil und stecke andere an. Man könne mit einem gesunden, rotwangigen Menschen reden, lachen und fröhlich sein, der sei aber vielleicht bereits angesteckt. Vier Tage später sei er krank und weitere vier Tage später sei er tot und schon zeigten sich die ersten Beulen bei einem selbst.

Man hörte nachts aus Häusern gespenstisches Singen und Johlen. Dort feierten ganz gottlose Menschen, hieß es, die sagten, lieber noch einmal richtig gelebt und das Geld durchgebracht, als in den Kirchen auf den Knien liegen und dann doch sterben – und alles den Erben hinterlassen! Der immer machtlosere Rat hatte solche Feste in den öffentlichen Wirtshäusern verboten, aber es geschah dennoch öffentlich oder heimlich, und es hieß, ganze Saufrunden hätte man nach einigen Tagen tot gefunden, von der Pest geholt – dies sei die Strafe Gottes für ihre Freude an der Lust.

Die Geißler zogen immer noch täglich über die Gassen und Plätze und sangen und lagen auf dem Boden, um Gott zum Frieden zu zwingen. Das Klatschen ihrer Geißelhiebe hallte von den Hauswänden wider. Aber auch sie wurden täglich weniger: War es die Seuche, die auch die Zahl der Geißler verringerte? War es ihr offensichtlicher Misserfolg, dass ihnen die Brüder davonliefen? Das wehleidige Gesicht des Herrn Kropfgans sah man immer noch, wie er sich fett und schwitzend mit der Geißel auf den Rücken klopfte.

Nur noch in den Kirchen waren die Menschen in Massen zu finden. Ein alter Bettler sagte zu Christoph und grinste dabei mit seinem zahnlosen Mund: »Dort stecken sie sich genauso an wie überall.«

Was sollte man glauben? Was sollte man tun?

Wären wir mit Balthas und Regine in den Schwarzwald gegangen, dann wäre vielleicht alles gut, dachte Christoph, der sich vorstellte, wie Philo irgendwo mit schwarzen Beulen in einem Winkel lag und starb. In seiner Höhle war er nicht. Die wenigen Bettler, denen er Philo so beschrieb, wie er als Bettler aussah, hatten ihn schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen.

Ein paarmal war er zu dem Speicher gegangen, in dem sie die Beweisstücke vermuteten, aber der Speicher wurde immer noch streng bewacht. Er hatte sogar einen der Wächter angesprochen, aber der hatte mürrisch gesagt: »Was glaubst du, wie viel in diesen Tagen gestohlen wird! Ob ich hier die Pest bekomme oder zu Hause, ist mir gleichgültig. Hier wird die Warterei wenigstens gut bezahlt. Vielleicht überlebe ich ja.«

In den Kirchen predigten schwarzweiße Mönche immer noch gegen die Juden: Die getauften Juden vergifteten die Brunnen, um ihre verbrannten Glaubensbrüder zu rächen.

Nach einigen Tagen war das Judenviertel erneut gestürmt und die wenigen getauften Juden waren umgebracht. Christoph begegnete der johlenden Menge – es waren nicht sonderlich viele –, als sie wie betrunken die Spießgasse heruntergetanzt kamen.

»Die waren doch getauft!«

»Die haben sich nur taufen lassen, um sich rächen zu können. Du glaubst nicht, wie rachsüchtig die Juden sind und wie schlau.« Ein fetter Mann mit einer Lederschürze sagte das. Er hatte ein blaurotes Gesicht, vor das er ein Tuch hielt.

Wenn sie Recht hätten – dann wäre die Pest jetzt aus!

Aber er wusste es ja besser: »Es waren doch meist Frauen, die sie zur Taufe gezwungen haben, nachdem sie – «

»Glaubst du auch an diese Gräuelmärchen. Das erzählen die Juden doch nur, um uns einzuwickeln.«

Es war sinnlos, weiterzureden.

Hungrig saß Christoph gegen Abend im schiefen Haus. Der Tag war heiß gewesen. Die Luft war noch drückender geworden.

Er würde betteln gehen müssen, wenn Philo nicht mehr kam, er hatte nur noch wenige Heller. Wie sollte es weitergehen? Er sah die Spinnwebfahnen. Die Balkenständer, die einmal die Stiege gehalten hatten, rutschten immer weiter nach vorne. Demnächst wird das Haus mich erschlagen! Wenn mich nicht vorher die Pest holt. Allein in den bewachten Speicher einsteigen?

Er wusste ja nicht einmal genau, wo er suchen musste.

Das Quietschen der Türe schreckte ihn freudig auf. Die Türe öffnete sich aber nur einen Spaltbreit – nicht Philo stand da, es war eine winzig kleine Gestalt.

»Du sollst mitkommen«, sagte der Junge, dessen zerlumpte Kleider jetzt deutlicher sichtbar wurden – ein Betteljunge, kaum acht Jahre alt. Er sprach mit einem eigenartig fremden Tonfall.

Christoph schaute ihn verwundert an und nickte.

Der andere machte zwei winzige Schritte vorwärts und blieb dann stehen: »Du sollst mitkommen.«

»Wohin?«, fragte Christoph unwillkürlich.

»Du sollst mitkommen.«

»Wie heißt du denn?«

»Du sollst mitkommen.«

Der Junge stand im Türspalt, seine Augen waren dunkel und groß, Angst stand darin, gleichzeitig hatten sie einen bittenden Ausdruck.

»Jemand schickt dich doch. Du kannst mir doch sagen, wer das ist.«

»Du sollst mitkommen.« Nur noch der Kopf war zu sehen.

»Kannst du gar nichts anderes sagen?«

»Du sollst mitkommen.« Er würde gleich anfangen zu weinen.

Gefährlich konnte der Junge ja nicht sein: »Also gut, ich komme mit dir, wenn du auch offenbar nur drei Wörter sagen kannst.«

»Du sollst ein Tuch mitnehmen«, sagte da der Junge überraschend.

»Du kannst also doch richtig sprechen.«

Aber der Junge schwieg.

Auf einem Holzsteg überschritten sie die schwarze Ill. Es war schwül, man erwartete unwillkürlich den Schein eines Wetterleuchtens über den Türmen der Gedeckten Brücken, die sich noch vom Abendhimmel abhoben. Ganze Wolken von Krähen kreisten um die Dächer und über den Bäumen bei den Gedeckten Brücken.

Christoph hatte plötzlich die Hoffnung, dass der Betteljunge ihn zu Philo führen würde.

Sie kamen an einer angefangenen Kapelle vorbei, deren Mauern eines Chores noch kaum über Mannshöhe aufstiegen. Behauene und unbehauene Steine lagen daneben. Da sagte der Junge plötzlich: »Kapelle Heiliger Sebastian. Wird nicht mehr fertig.«