Überrascht antwortete Christoph: »Weshalb – was sind das für Mauern?«
»Herr Wangenbaum«, sagte der Junge, »letzte Woche gestorben an Pest.«
Der dicke Bäckermeister Wangenbaum war tot, der immer etwas Mehl in seinem Gesicht oder an seinem Ärmel gehabt hatte und der ein Mörder war!
Der heilige Sebastian war ein Nothelfer gegen Seuchen. Die Pest hatte Herrn Wangenbaum trotz der Kapelle geholt, die er gestiftet hatte, um verschont zu werden.
Christoph hatte schon oft für die Familie Löbs gebetet. Es hieß, Juden könnten nicht in den Himmel kommen. Es könnten überhaupt nur Getaufte in den Himmel kommen. Aber das konnte nicht sein und das durfte nicht sein!
Man sollte nicht schadenfroh sein – aber irgendwie war es für Christoph wie Gerechtigkeit, dass die Kapelle nicht fertig geworden war, bevor Herrn Wangenbaum die Pest geholt hatte.
Auf dem ganzen Weg vermied der Junge es ängstlich, Christoph zu berühren.
Christoph erkannte das Haus, vor dem der Junge stehen blieb. Es war das riesige, verlassene Haus, das mit seiner Rückseite im hinteren Hof an den Speicher des Herrn Dopfschütz stieß. Das heruntergekommene Gerberhaus sah in der Dunkelheit, die jetzt fast ganz hereingebrochen war, noch unheimlicher aus als damals, als er es mit Philo zusammen am helllichten Tag gesehen hatte. Die Türe des Hauses und viele Fenster waren mit Brettern vernagelt, andere Fenster sahen aus wie schwarze Löcher.
Der Junge legte einen Finger auf den Mund und ging voraus in eine Hofeinfahrt neben dem verlassenen Haus, die einst wohl zu einem Stall geführt hatte.
Der Junge zeigte zu einem vernagelten Fenster hoch, dessen hellere Bretter in der Dunkelheit gerade noch erkennbar waren. Er stellte sich auf einen Stein, ehemals ein Radabweiser. Eines der Bretter ließ sich auf die Seite schieben, auch ein zweites, wodurch ein Spalt entstand, der auch für Christoph weit genug war.
Über den Radabweiser stiegen sie in das Haus, in dem man nicht mehr die Hand vor den Augen sehen konnte.
Er konnte dem Jungen nur folgen, weil dieser immer wieder sagte: »Hier, du sollst mitkommen!«
Es wäre einfacher gewesen, wenn der Junge ihn an der Hand geführt hätte. Aber der Junge vermied jede Berührung.
Er hat Angst vor der Pest, dachte Christoph, der mehr über das Ziel als über den Jungen nachgedacht hatte.
Zuerst war Steinboden unter den Füßen, dann ging es durch eine niedere Türe, an der sich Christoph den Kopf anstieß, obwohl der Junge gesagt hatte: »Vorsicht, mitkommen.«
Ein faulender Bretterboden knirschte jetzt unter ihren Füßen. Mehrmals stolperte Christoph über ein fehlendes Brett. Auch lag wohl allerlei Unrat herum.
Der unsichtbare Junge vor ihm sagte: »Jetzt Stiege, mitkommen.«
Er stolperte die schief abgetretenen Holztritte hoch, von denen wohl ab und zu einer ausgebrochen war.
Ein weites gerades Stück, wohl ein Ern, schloss sich an. Überrascht bemerkte Christoph einen Lichtschimmer. Der Boden war wieder aus Steinplatten und war deutlich zu sehen.
Der Lichtschein fiel aus einer Türe, die links von dem Gang abging. Christoph stand in einem großen, vollkommen leeren Raum, auf dessen Dielen eine helle Bahn aus dem Nachbarraum fiel.
Er machte einige Schritte vorwärts.
»Bleib dort stehen, wo du stehst! Komm keinen Schritt näher!«
Die Stimme war schwach und rau.
Auf einem Bett lag Philo!
Der Raum, in den er blickte, war von drei oder vier Talglichtern und einer Kerze sehr hell. Ein Bett stand da, ein richtiges Bett mit einem Strohsack und einer Decke. Neben dem Bett stand ein großer Wasserkrug, daneben konnte Christoph einen Käse und einen Brotlaib erkennen.
Philo hatte sich etwas aufgerichtet: »Habe ich dir nicht gesagt, dass du bleiben sollst, wo du bist! Willst du auch die Pest?«
Philos Gesicht sah abgemagert und elend aus, die Augen lagen erschreckend tief in den Höhlen und schienen fast schwarz.
»Um Himmels willen, bleib wenigstens jetzt, wo du bist!«
»Was ist mit dir los? Wie kommst du hierher? Wo warst du? Was kann ich für dich tun?«
Philo lächelte müde: »Mit mir ist es aus. Aber hat der Junge nicht gesagt, dass du ein Tuch mitbringen sollst? – Also dann halt es vor dein Gesicht. Reg mich nicht noch auf. So ist es recht.«
Es wäre nicht nötig gewesen, dass Philo ihn dazu aufgefordert hatte: Christoph wurde von einer zunehmenden Panik ergriffen. Er ertappte sich dabei, dass er nur noch auf den Todkranken starrte und an die Ansteckung dachte. Er atmete dieselbe Luft wie Philo, es hieß, die Luft sei vergiftet – aber es ist doch mein Freund Philo, der dort im Sterben liegt! Entsetzt spürte Christoph, wie ihn dennoch ein einziger Drang ergriff – weglaufen, nichts wie weg hier!
Philos Stimme war schwach und heiser. Er erzählte leise und hastig. Wie er von den Wachen gefangen genommen worden war, als er den Weg durch das verlassene Haus in den Speicher gerade erkundet hatte. Wie das halb von ihm beabsichtigt war. Wie Herr Dopfschütz ihn nach zwei Wochen zum zweiten Mal verhört hatte, weil er nicht mehr an die Gauklerübungen glaubte. Wie in diesem Verhör deutlich geworden war, dass Herr Dopfschütz keinen Verdacht hatte, was sie wirklich suchten: »Er ist völlig ahnungslos und meint, wir wollten seinen Speicher ausrauben. Die Wachen haben ihm von einem zweiten Räuber erzählt, den er auch noch haben will. Weißt du, der Speicher ist prallvoll mit Leder, Seidenballen und Gewürzen. Er war aber so aufgeregt, dass es auch noch einen weiteren Grund geben muss – die Sache mit dem kleinen Turm vielleicht? Wollen sie hier ihre Gewaltmittel lagern?«
Philo berichtete weiter, wie er schließlich in dieser Kammer, in der er jetzt sterben müsse, eingeschlossen worden sei, wahrscheinlich, um den anderen Dieb anzulocken.
»Das Schloss ist unversehrt, du kannst es sehen. Sogar ein Bett war da, und das war der Fehler: Regine hat mir einmal aus der Hand gelesen, dass ich in einem Bett sterben werde. Hätte ich mich nur niemals hineingelegt. Das erste Mal in meinem Leben in einem Bett und schon habe ich die Pest.« Er grinste matt.
»Aber dann bin ich krank geworden, die Pestbeulen wurden sichtbar und die Wachen sind verschwunden, die Türe haben sie aufgelassen. Sie haben mich behandelt wie einen Toten. Huny, der Junge, der dich geholt hat, ein Betteljunge, hatte mich schon in der Gefangenschaft mit Essen versorgen müssen. Er ist wiedergekommen, weil ich ihm immer wieder einige Münzen aus der Nase gezogen habe, hat mir Essen und Trinken und Lichter gebracht und an die Türe gestellt, und ich konnte ihn zu dir schicken.«
Tränen stiegen hoch. Aber Christoph konnte nicht zu dem Pestkranken hingehen.
»Ich bin sehr schwach. Das Fieber ist hoch. Die Schmerzen sind schrecklich. Es geht wohl nicht mehr lange. Lass mich nicht zu viel sagen müssen.« Er atmete heftig. »Kurz: Durch dieses Haus hier musst du in den Speicher steigen.«
Er beschrieb ihm den Weg sehr sorgfältig.
Er hustete, seine Stimme war leise und aus der Entfernung kaum mehr zu verstehen: »Wie gerne hätte ich bei diesem Einbruch mitgemacht – «
»Kann ich denn gar nichts für dich tun?«
»Nein! Und jetzt muss ich schlafen – ich bin todmüde. Der Junge versorgt mich, lange wird es wohl nicht mehr dauern. Du sollst die Pest nicht auch noch bekommen! Und vor allem nicht von mir, also geh jetzt und komm nicht wieder. Und vergiss nicht: Einbrecher sind immer barfuß.«
Er hatte es fast unhörbar gesagt.
Nach wenigen Tagen ertrug Christoph ihre alte Behausung nicht mehr. Alles erinnerte an Philo. Seine Flöte lag noch auf dem Tisch.
Es gab jetzt sehr viele leer stehende Häuser in Straßburg, Christoph hätte sich das schönste aussuchen und sich leicht Zugang verschaffen können. Aber man sah diesen Häusern kaum an, ob die Bewohner geflohen oder an der Pest gestorben waren. Denn die Flüchtlinge malten zur Abschreckung meist ebenfalls die weißen Pestkreuze auf die Türen, und Christoph hütete sich ein solches Haus zu betreten.