Philo!
Dann stieß er sich ab. Er knallte mit der ganzen Wucht des Sprunges mit Kopf und Schulter gegen die Innenseite des schräg stehenden Ladens. Der öffnete sich mit einem laut krächzenden Ton und Christoph fiel polternd in den Dachraum des leeren Hauses hinein. Kopf und Schulter taten weh und er war halb blind vor Staub.
Von unten aus dem Speicher hörte er Stimmen: »Dort oben ist er!«
»Im Vorderhaus.«
»Vorne ist alles besetzt, da kommt er nicht hinaus!«
Christoph hatte beide Hände um den Beutel auf seiner Brust mit dem Gewicht verkrallt. Seine Gedanken jagten wie im Fieber, wohin? Gleichzeitig rannte er schon zur Leiter und kletterte hinab. Ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, jagte er durch den oberen Ern zur Vorderseite des Hauses. Kammern, Gänge, eine große Stube, leer und kahl – alles im Dämmerlicht der vernagelten Fenster. Dort – ein Strom von Licht, das sich durch eine Mauer ergießt: die vermauerte Galerie mit ihrer halb hinabgebrochenen Wand.
Drüben gegen das schräge Licht der aufgehenden Sonne war das Nachbarhaus, dazwischen die Stangen und Seile, an denen die Tierhäute den Blick hinab in die Gasse versperrten. Ohne recht zu überlegen, was er tat, ließ er sich durch den Mauerspalt hinab. Konnte er von hier mit den Füßen eine der Stangen erreichen? Er konnte. Er richtete sich auf – trug sie ihn?
Da war wieder die tiefe Stimme des alten Balthas: Ganz ruhig atmen, ganz ruhig. Die Arme ausstrecken, dein ganzes Gewicht liegt auf den Fußsohlen. Gut, dass du barfuß bist. Die Arme halten das Gleichgewicht, auch wenn es schwankt wie jetzt, da ist nichts dabei, wenn man ganz locker in den Hüften ist. Ein Schritt und wieder ein Schritt, einer nach dem anderen. Den Blick nur auf deinen Weg richten. Auf der ganzen Welt gibt es jetzt nichts als diesen Weg. Es ist keine Stange, es ist nichts als ein Weg, auch wenn er wippt und sich jetzt sehr durchbiegt. Nichts wird brechen, nasse Tierhäute sind viel schwerer als du.
Ein winziger schrecklicher Blick in die Tiefe!
Das geht dich nichts an. Du gehst wie in einem Trichter. Ruhig atmen. Die Stimme war gleichmäßig, man konnte sich anlehnen an diese warme Stimme wie an einen Baum. Es geht jetzt bergauf, erst unmerklich, dann immer steiler. Du kannst es, siehst du, du kannst es. Es ist ganz leicht. Schritt für Schritt, gleich hast du es geschafft. Schritt für Schritt. Ich weiß doch, dass du ein guter Seiltänzer bist, einer der besten Schüler, die ich je hatte.
Hatte er zum Schluss die Augen geschlossen? Er wusste es nicht.
Schritt für Schritt.
»Da oben! Seht ihr ihn? Ganz schön frech!«
»Ohne mich. Der geht geradewegs in ein Pesthaus. Seht ihr die weißen Kreuze an der Tür?«
»Da verreckt er auch ohne uns.«
Christoph lehnte an einem Fensterladen, der sich auf die Seite schieben ließ. Er atmete tief wie im Schlaf. Der Vater war ganz nah. War da eine Flöte?
Dann war er im Haus.
Hinter dem Haus war ein Garten und die Ill, weiter hinten waren wieder Häuser und Gärten und dahinter ragten grau die Türme der Stadtmauer.
Christoph schritt durch die Gartenpforte hinaus, ohne auf jemand zu achten. Dann war er am Illufer, hatte plötzlich das Gefühl doch noch verfolgt zu werden und ging in Philos Höhle. Dort legte er sich auf den Boden wie ein krankes Tier, beide Hände um den Gewichtsstein mit der Handelsmarke seines Vaters geschlossen.
Zwei Schreiben mit gebrochenem Siegel hatte er in der Eile aus der Kiste mitgenommen. Beide waren aus Stuttgart, beide hatten seinen Vater zum Inhalt. Im ersten Brief wurde der Erhalt der Bitte bestätigt Johann Heinrich Christoph Schimmelfeldt zu ruinieren. Der Austausch der Gewichte wurde vorgeschlagen und im zweiten Brief, der ein Begleitschreiben zu dem Gewichtssatz war, bestätigt. Wie es mit der Sache stehe, wurde gefragt, ein gewisser Schwefellieferant aus Italien vorgeschlagen.
Es lag alles offen. Und es war alles bewiesen. Mit dem Gewicht in Stuttgart und den beiden Briefen würde er seine Ehre und sein Erbe zurückbekommen. Was der Vater erhofft hatte, war eingetreten. Wenn es Gerechtigkeit gab vor dem Gericht in Stuttgart, so hatte er es geschafft.
Dennoch blieb die große Freude aus: Mit einer Klarheit wie noch nie, seitdem er in Straßburg war, stand ihm das Bild des gefolterten Vaters vor den Augen – das schweißüberronnene, bleiche Gesicht, die herabhängenden, hölzernen Arme. Er hörte wieder die schweren, pfeifenden Atemzüge.
Da war Esther.
Nachts träumte er von riesigen Gerüsten, endlosen Stangen, Seilen und Balken, über die er gehen musste, Leitern, die bis zum Himmel reichten. Dort warteten sie alle auf ihn: die Mutter, der Vater, der alte Abraham, Löb, Nachum, Philo, Esther –
Das große Sterben in der Stadt Straßburg ging weiter.
Der Orden der Geißler war vom Rat verboten worden. Dennoch hörte man ihren Gesang und das Klatschen ihrer Hiebe noch immer in der Stadt.
Nun hebet auf eure Hände,
dass Gott das große Sterben wende –
Gespenstisch war es, als nach und nach das Geläute der Totenglocken verstummte, das Tage und Wochen hindurch zu hören gewesen war, nur nachts war es ausgeblieben. Jetzt war wohl niemand mehr da, der die Glocken hätte läuten können. Auch auf die meisten Uhren an den Türmen war kein Verlass mehr, weil sie nicht mehr aufgezogen wurden. Nur noch wenige dünne Stundenschläge waren zu hören und auch sie wurden immer weniger.
Wie der Sand, der aus einer Sanduhr rinnt, dachte Christoph.
Den dicken Herrn Kropfgans hatte nun ebenfalls die Pest geholt, obwohl er einer der eifrigsten Geißler geworden war mit seinem wehleidigen Gesicht. Er habe Blut gehustet und sei sehr schnell gestorben, wurde gesagt.
Auch Herr Eisenhut mit seinen dünnen Lippen war tot.
Herr Dopfschütz sei auf viele Wochen verreist, erfuhr Huny, als er ihm angeblich eine wichtige Botschaft persönlich ausrichten wollte. Geflohen, dachte Christoph. Er hat lange ausgehalten.
Sein Speicher wurde immer noch bewacht.
Wenn er auch noch stirbt –
Nein, dachte er, dann machen es andere. Zu viele wissen von den neuen Waffen. Es lässt sich auf die Dauer nicht verbergen.
Alles kommt so, wie es der alte Abraham gesagt hat.
DER STEIN
Was hielt Christoph noch in Straßburg? Er könnte schon längst wieder in Stuttgart sein, in seinem väterlichen Erbe. Er hatte alles erreich? was sein Vater und er sich erträumt hatten.
Aber der Vater war tot.
Er träumte oft von Esther, als wäre sie noch bei ihm. Er hörte, wie sie sagte: ›Mein weißer Elefant!‹, wenn sie ihm durch die Haare strich und einzelne Büschel seiner schwarzen Haare betrachtete. Sie lachte dann so hell, dass er davon erwachte und nicht mehr einschlafen konnte.
Die alte Esther hatte einmal ein Märchen erzählt, das er nicht verstanden hatte.
»Ein Mann ging auf seinen Acker, um zu säen. Das Saatgut trug er in einem Sack auf der Schulter. Der Weg zum Acker war weit. Als er schon ein großes Stück gegangen war, stürzten sich Krähen auf seinen Sack. Ihr Krächzen war so laut und das Schlagen ihrer Fittiche so heftig, dass er betäubt zu Boden stürzte. Als er wieder zu sich kam, hatten die Krähen das ganze Saatgut aufgefressen. So ging er wieder nach Hause, um anderes zu holen. Als er aber zu seinem Acker kam, war da ein Wald gewachsen. Ein dichter Wald mit vielen Blumen und Schmetterlingen. So dicht war der Wald, dass kein Plätzchen blieb, auf das er hätte säen können. Was soll ich mit Schmetterlingen und Blumen!, sagte der Mann. Ich will nach Hause gehen, meine Axt holen und den Wald fällen. Als er aber wieder an seinen Acker kam, war der Wald verschwunden. Stattdessen war da eine Wüste, in der es nur Steine gab und Staub und Sand und keinen Tropfen Wasser. So konnte er auch jetzt nicht säen.«
Die alte Esther hatte das Märchen erklären wollen. Aber etwas war dazwischengekommen, später hatte man nicht daran gedacht, und jetzt –