Christoph glaubte jetzt das Märchen besser zu verstehen, aber er hätte es nicht sagen können.
Es war die Angst vor der Pest, die ihn in Straßburg festhielt. Er müsste sich nach Stuttgart durchbetteln und er sah sich, wie er nach wenigen Tagen in irgendeinem Graben lag, mit Beulen unter den Armen, glühend vor Fieber.
Nie wusste man ja, ob man die Pest nicht schon in sich trug.
Also blieb er und wartete einsam auf das Ende der Seuche. Er hatte aber das Gefühl, als könne der Gewichtsstein seines Vaters, den er immer bei sich trug, die Pest verhindern.
Mit den ersten Frösten erlösche die Seuche. Die Leute sagten es mit zunehmender Spannung, weil es jetzt, Anfang Oktober, nicht mehr lange war bis dahin. Niemand wollte zum Schluss, kurz vor der Rettung, doch noch von der Pest geholt werden. Ein erstes Zeichen für die aufkeimende Hoffnung war, dass sich die Gassen der Stadt langsam wieder zu beleben begannen.
Aber die Krankheit dauerte an. Noch starben jeden Tag viele Menschen, es hieß sogar, die Zahl der Toten nehme wieder zu. Die Friedhöfe reichten längst nicht mehr aus, Gruben wurden ausgehoben und die Toten einfach hineingeworfen.
Gleichzeitig hörte man immer mehr Gerüchte über Heilungen und unverhoffte Rettungen: Wie Kranke, die man aufgegeben hatte, morgens plötzlich sehr schwach, aber fieberfrei nach Essen und Trinken verlangt hätten und in der Folge wirklich gesund geworden seien. Niemand wisse, warum. Sie bräuchten aber manchmal Wochen, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen.
Das Betteln war immer leichter geworden. Nur sehr wenige Bettler gab es noch in Straßburg – kein Stand sei von der Pest so sehr heimgesucht worden wie die Bettler, hieß es. Der Stelzenklaus sei tot, wurde gesagt. Und die Angst vor der Krankheit machte die Menschen immer noch freigebig.
Brot und Fleisch waren freilich sehr teuer geworden, weil viel mehr Bäcker, Metzger und Müller starben als zum Beispiel Schmiede oder Gerber, hörte Christoph einmal sagen. Niemand konnte es erklären.
In den Kirchen lag das Abendmahl öffentlich aus. Jeder konnte es sich nehmen, weil keine Geistlichen mehr da waren, um es auszuteilen – sie waren entweder geflohen, die meisten aber bereits gestorben, weil sie einem Kranken die Beichte gehört oder mit ihm gebetet hatten. Der Bischof hatte alle Menschen in Straßburg auch ohne Beichte im Augenblick ihres Sterbens von ihren Sünden losgesprochen.
Einmal noch war Christoph im Viertel der Juden gewesen. Mit leerem Blick war er durch die Gassen gegangen. Es hatte sich kaum etwas geändert seit dem Valentinstag. Einige der reicheren Steinhäuser hatten neue Türen bekommen, offenbar hatten neue Besitzer begonnen die Häuser wieder herzurichten, auch das Haus Löbs. Aber jetzt standen die Arbeiten still, die Häuser waren alle leer.
Die Cheder, die Mikwe, der öde Brunnen mit den Eimern, die zu rosten begannen, die Synagoge – hier war es noch viel einsamer als auf den leeren Gassen und Plätzen der übrigen Stadt.
Christoph ging langsam zurück in die Christenstadt und beschloss nun nicht mehr hierher zu gehen.
Einmal ging er auf den Friedhof der Juden, auf dem er mit Esther gewesen war. Unkraut wucherte, Grabsteine waren umgestürzt. Christoph versuchte einen der kleineren wieder aufzurichten, aber er war zu schwach.
Dann sah er die große, neu aufgefüllte schwarze Fläche, auf der schon Wildblumen wuchsen. Tränen stiegen auf: Der Rat habe, so wurde gesagt, die Asche der verbrannten Juden aus Rotenkirchen überführen, hier einfüllen und mit Erde zudecken lassen. Schlechtes Gewissen? – Oder sollte es heißen, die Juden seien auf ihrem Friedhof verbrannt worden?
Trostlos nahm er einen großen Stein und legte ihn darauf.
Der Nebel lag über dem Strom, als Christoph auf der Fähre über den Rhein setzte. Wie Mehltau lag der Reif auf dem Strauchwerk, das sich aus dem Ufer löste, weiß verlor sich die Ebene um ihn, als er von der Fähre stieg. Weiß traten die Bäume aus dem Nebel, als er auf der Straße von Kehl aus abwärts wanderte. Gegen Mittag hellte der Nebel auf und zeigte rechts die dunkle Mauer des Schwarzwalds, dessen oberste Kante schon weiß war.
Der mächtige weiße Rücken ist die Grinde, dachte Christoph und schaute im Gehen lange hinauf.
Die Pest war, wie vorhergesagt worden war, mit den ersten Frösten zu Ende gegangen. Die letzten Toten waren begraben worden und Christoph musste nicht mehr damit rechnen, am Morgen irgendwo mit Pestbeulen aufzuwachen. Er war nicht allein auf der Straße. So viele Fuhrwerke, Bauern und Wanderer waren unterwegs, dass man meinen konnte, alles Versäumte sollte jetzt im Spätherbst noch nachgeholt werden.
Freilich, auf sehr vielen Äckern stand das Getreide jetzt noch im Oktober auf dem Halm, schwarz und verschimmelt. Obstbäume brachen beinahe unter der Last des ungeerntet faulenden Obstes.
Häuser sah er, an denen Fenster und Türen vernagelt waren. Oft sah er auch noch das weiße Pestkreuz an den Türen.
Bei jeder Rast schaute er den kleinen Gewichtsstein mit der Handelsmarke seines Vaters an: das wohl vertraute glänzende Messingrund mit der großen Vier und dem springenden Pferd darüber.
Die Pest hatte ihn verschont. Das musste ein gutes Zeichen sein!
Er machte Pläne: Er war alt genug, das Geschäft seines Vaters wieder aufzubauen. Er hatte viel gelernt, solange er noch im Kontor des Vaters gearbeitet hatte, bei Löb hatte er noch einiges dazugelernt. Vielleicht nahm er auch einen zuverlässigen und erfahrenen Geschäftspartner auf. Wenn er vorsichtig genug war, konnte er den unvorstellbar wertvollen Diamanten beleihen, es genügte ein winziger Bruchteil seines wirklichen Wertes – freilich durfte er kein großes Risiko eingehen, denn der kostbare Stein, eingeschlagen in Esthers seidenes Tuch, gehörte nicht ihm.
War das Geschäft wieder in Fluss – er kannte die Geschäftsverbindungen seines Vaters –, dann würde im Osten die Suche nach Esther und Nachum beginnen. Er wollte nicht daran denken, dass ihnen die Flucht nicht geglückt sein könnte. Wenn es keinen Herrn Dopfschütz und keinen Herrn Wangenbaum mehr gab, dann konnten Esther und er ohne Schwierigkeiten heiraten. Der Gedanke war süß im Gehen, so schritt er schneller aus.
Er versuchte sich das Gesicht Esthers vorzustellen, aber es wollte nicht immer richtig gelingen, auch ihre Stimme, die er meist hören konnte, wann er wollte, stellte sich nicht immer sofort ein.
Er musste nicht mehr heimliche Wege über den Schwarzwald gehen. Die meisten seiner Feinde waren tot. Von dem geflohenen Herrn Dopfschütz hatte er nichts mehr gehört. Und wenn es schlimm kam: Mit den Beweisen, die er in der Tasche trug, brauchte er jetzt weder die Gegner in Straßburg noch die in Stuttgart zu fürchten.
Und – verfolgte Herr Dopfschütz seine Pläne noch weiter? Wenn nicht er, so werden es andere tun. Aber denen bin ich gleichgültig.
Oft nahmen ihn Fuhrwerke mit, aber die Fuhrleute hatten wenig Freude an dem wortkargen Jungen, der bleich und mit einer steilen Falte in der Stirn auf ihrem Wagen saß und kaum ein Wort sprach.
In Pforzheim fragte er nach den Juden – er wusste, dass es hier eine Gemeinde gegeben hatte. Es seien nicht viele Juden gewesen, aber sehr reiche, wurde ihm gesagt. Sie seien aber alle geflohen, als im Reich die Maßnahmen der Behörden gegen die Juden losgegangen seien.
Maßnahmen der Behörden gegen die Juden!
Ein paar, die nicht rechtzeitig fortgingen, seien umgekommen. Ein Jude, ein uralter, sei aber noch in der Zeit der Pest wieder zurückgekehrt, der alte Löw, er hause jetzt in einem winzigen Hüttchen an der Stadtmauer, nachdem er vorher in einem wahren Palast gewohnt hatte. Der Mann, den Christoph gefragt hatte, grinste schief. Was er denn von dem alten Juden wolle?
Christoph war bei dem Namen Löw zusammengezuckt.
Als er sich auf den Weg zu dem Häuschen machte, ging eine ältere Frau ein Stück weit mit ihm und sagte leise zu ihm: »Es ist eine Schande, wie sie mit den Leuten umgehen. Der alte Löw hat niemals einer Fliege etwas zu Leide getan. Aber sie haben ihm alles weggenommen, alles! Sodass er nicht mehr richtig im Kopf ist. In seinem Haus, das er schon vor vielen Jahren hat bauen lassen und in dem seine Frau und seine Kinder nach und nach gestorben sind, wohnt jetzt ein anderer, der bei ihm hoch verschuldet war. Dabei stehen sehr viele Häuser leer jetzt nach der Pest. Ihm haben sie ein Häuschen an der Stadtmauer gegeben. Ich frage: Ist das recht?«