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»Nicht mehr richtig im Kopf?«

»Sonst wäre er ja nicht ausgerechnet während der Pest wieder zurückgekehrt! Hier musst du weiter, dann links und erst die dritte Gasse rechts, du siehst es dann schon.«

Eine baufällige Hütte lehnte sich an die Stadtmauer. Christoph klopfte mehrfach, bis er ein hüstelndes Geräusch hörte. Ein Riegel wurde umgelegt, ein zweiter zurückgeschoben. Kurzsichtige Äuglein über einem weißen Bart wurden sichtbar.

»Was willst du, verschwinde!«

»Seid Ihr der Jude Löw?«

»Verschwinde!«

»Ich habe eine wichtige Frage, bitte lasst mich hinein.«

Eine Kette klirrte, der Türspalt ging ein wenig weiter auf: »Wer bist du? Was willst du?«

»Ich komme aus Straßburg und möchte nach zwei Kindern fragen.«

»Was für Kinder?«

»Juden, ein Junge und ein Mädchen, Freunde von mir.«

»Bist du ein Jude?« Der Blick war freundlicher geworden.

Christoph schlüpfte hinein: »Nein, ich bin kein Jude, aber ich habe in Straßburg bei Juden gelebt, bei Löb Baruch, den müsst Ihr kennen, wenn Ihr Kaufmann wart. Und ich möchte – «

Der Alte unterbrach ihn, indem er sich vorbeugte und ihm ganz nah in das Gesicht blickte: »Dann bist du Christoph Schimmelfeldt. Ich habe deinen Vater gut gekannt. Er ist tot, nicht wahr?«

»Woher wisst Ihr?«

»Man hat in den Judengemeinden von dem Christenjungen gesprochen, den die Familie Löb Baruchs aufgenommen hat. Ich habe auch von der Verfolgung deines Vaters gehört. Genaueres aber weiß ich nicht.«

Er fuhr Christoph über das Haar: »Du hast den Mord an den Juden in Straßburg überlebt – lebt auch Löb noch? Und lebt seine Familie? Wohl nein, sonst wärst du nicht hier.« Er wiegte den Kopf und strich sich mit beiden Händen durch den Bart, der ihm weit über die Brust reichte.

»Deshalb bin ich hier. Löb und der alte Abraham, von dem Ihr wohl auch wisst, haben mir das Leben gerettet. Ich weiß, dass sie umgebracht worden sind und die Frau Abrahams, aber ich weiß nichts von den Kindern Nachum und Esther. Es gibt Zeichen, dass sie gerettet wurden. Wisst Ihr etwas – sind sie auf der Flucht durch Pforzheim gekommen? Habt Ihr sonst von ihnen gehört?« Christoph hatte die Hände verkrallt.

Der alte Löw wiegte bedauernd das Haupt: »Nichts weiß ich, nichts. Über Pforzheim konnten sie nicht kommen, weil hier die Juden ebenfalls umgebracht worden sind. Ich und wenige andere konnten rechtzeitig fliehen. Aber wo sollte ich bleiben? Mein Leben war hier in Pforzheim, hier sind die Gräber meiner Frau und meiner fünf Kinder.«

Christoph starrte ihn entsetzt an.

»Nein, sie sind nicht ermordet worden. Der Tod war gnädiger als die Menschen und hat sie viele Jahre vorher geholt.«

Christoph fühlte die Hand des Alten auf seiner.

»Ich habe damals gemeint, ich müsse sterben vor Schmerz. Aber es war ein Segen, wenn man weiß, was vergangenen Winter geschehen ist.«

Er sprach sehr leise: »Hunderte von Judengemeinden sind im Winter ausgerottet worden im ganzen Reich wie in Pforzheim, Stuttgart und Straßburg. Wer nicht fliehen konnte, und das konnten nur wenige, wurde bei lebendigem Leib verbrannt, zu Tausenden. Viele von den Geflohenen wurden von den Bauern ausgeraubt und totgeschlagen. In Speyer haben sich die Juden in ihrer Verzweiflung in ihren eigenen Häusern selbst verbrannt, so wird gesagt.«

Der alte Mann hatte beide Hände auf sein Käppchen gelegt und wiegte den Oberkörper vor und zurück.

»Und Ihr?«

»Wo sollte ich hin mit meinen dreiundachtzig Jahren? In den Ostens Nein, als die Pest kam, bin ich zurückgekehrt, sollten sie oder die Pest mich auch umbringen. Aber sie haben ein schlechtes Gewissen und haben mir dieses Häuschen gegeben, mein großes Haus bewohnen andere. Es macht mir nichts aus.«

Ein trockenes Hüsteln unterbrach ihn.

»Es reicht zum Sterben. Sie halten mich für verrückt, weil ich zurückgekommen bin. Ich weiß. Sie fühlen nichts und sie denken nichts. Aber sie haben ein schlechtes Gewissen.«

Er drückte Christoph die Hand und sagte singend: »Nichts weiß ich von Nachum und Esther, den Kindern Löb Baruchs. Nichts weiß ich. Armes Kind, du hast den Weg umsonst gemacht.«

»Seid Ihr jetzt der einzige Jude in Pforzheim?«

»Die Welt hat sich verändert und sie wird sich nun nach der Pest noch mehr verändern. Ob es wieder Juden in Pforzheim geben wird?«

Seine Augen gingen über Christoph hinweg.

»Sie haben im Jahre 1260, am Freitag nach Johannes dem Täufer, wie ihr Christen sagt, in Pforzheim ein kleines Mädchen gesucht, das nicht nach Hause gekommen ist. Das Mädchen hieß Margarete. Als es nicht mehr gefunden wurde, haben sie gesagt: Die Juden haben es umgebracht, sie haben ihm das Blut ausgesaugt, obwohl sie wissen, dass kein Jude Blut zu sich nehmen darf.«

Christoph nickte. Die Geschichte war nicht neu.

»Dann haben sie einige Juden verhaftet und gefoltert, bis sie gestanden haben. Diese Juden wurden umgebracht und die anderen ausgewiesen. Für das angeblich ermordete Kind hat man eine Kapelle gebaut. Du kannst die Margaretenkapelle heute noch sehen.«

»Und dann sind wieder Juden nach Pforzheim gekommen?«

»Ja, mein Großvater und mein Vater und andere. Die Christen haben die Juden geholt, weil sie die Juden brauchten. Siehst du, es werden wieder Juden kommen nach Pforzheim. Auch nach Straßburg werden wieder Juden kommen. Aber es wird alles anders sein«, er sprach weiter mit singender Stimme, »wir Juden sind jetzt arm und die Juden, die in den Osten gegangen sind, werden noch ärmer sein. Die Verbote des Papstes anno 1215: keine Juden als Bauern, Handwerker, Kaufleute, nur noch Kleinhändler oder Geldverleiher – die werden jetzt viel strenger durchgesetzt: Arm werden die Juden sein. Und wenn einer reich wird durch den Geldverleih gegen Zinsen, dem Einzigen, was ihm geblieben ist, so wird der Neid kommen und sagen: Wucherer, Geizhals, Leuteschinder! Alles wird sich ändern bei den Juden, und auch bei den Christen.«

»Bei den Christen?«

»Du musst nur rechnen«, er sagte es mit Bestimmtheit, »sehr viele Menschen sind an der Pest gestorben. Sie lassen viel Geld zurück, das die Überlebenden bekommen. Geld wird künftig eine ganz andere Rolle spielen als früher. Wer Geld hat, wird künftig die Macht haben, nicht mehr, wer das Land hat.«

Christoph dachte an den alten Abraham: Alles wird anders. Wer Geld hat, kann sich die neuen Waffen kaufen –

»Es wird sich noch viel mehr ändern bei allen: Die Pest hat es gezeigt. Vieles, was Jahrhunderte galt, hat versagt. Die Guten sind gestorben wie die Bösen. Frauen haben ihre kranken Männer, Männer ihre Frauen verlassen, Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern. Die ärztliche Kunst hat ebenso versagt wie die der Priester und Rabbiner. Alles wird anders werden. Ich aber werde tot sein.«

Am Abend, als Löw ein Talglicht angezündet hatte, fasste Christoph Mut, er entfaltete Esthers seidenes Tuch und zeigte dem alten Juden den Diamanten.

Der alte Mann schwieg und beugte sich lange darüber, er hielt ihn vor das Licht und brachte ihn nahe an sein Auge, das andere war geschlossen. Lange blieb er stumm. Dann flüsterte er, dass es kaum zu verstehen war: »Adamas, der Unbezwingbare. Ich kenne diesen Stein sehr gut. Unzählige Diamanten habe ich gesehen in meinem langen Leben. Der hier ist der Schönste. Ganz rein ist er, ohne Makel.«

Wieder schwieg er und brachte dann sein Gesicht und den Stein ganz nah an das Gesicht von Christoph: »Ich bin dir dankbar, dass ich ihn noch einmal sehen durfte. Weißt du, es gibt nichts Vollkommenes auf der Erde, aber dieser Stein ist ein Bild der Vollkommenheit Gottes.«