Sie schwiegen über den Stein gebeugt.
Später erzählte Christoph. Er schloss: »Ganz verstehe ich es nicht, warum sie den Stein mir gegeben haben. Ich verstehe nur, dass er nicht mir gehört.«
»Es lässt sich vieles denken. Das Einfachste ist, dass er nur bei dir sicher war. Sie haben großes, großes Vertrauen zu dir.« Der alte Mann legte seine Greisenhand auf die Christophs.
Er durfte über Nacht bleiben und lag lange in der Dunkelheit und hörte den alten Mann beten.
Es geschah mit einem Ruck: Esther! Er verstand plötzlich alles. Es war so deutlich: Esther war für ihn verloren! Man musste die Zähne zusammenbeißen und die Fäuste ballen, um es zu ertragen.
Er sah sie klar vor sich. Er hörte ihre Stimme.
Es war schwarz und bitter. Auch wenn sie noch lebte mit ihrem Bruder Nachum, auch wenn sie im Osten gerettet war – vielleicht bei Elieser und Hannah, auch wenn er sie dort fand: Sie waren nicht zusammengekommen! – Die Zeit und die Menschen waren gegen sie gewesen. Der Stein hatte nichts damit zu tun.
Er hätte es längst sehen müssen: Der alte Abraham hatte sie nicht gemeinsam gerettet!
Er hatte auch keine Nachricht von Esther mitgegeben, nicht einmal einen Gruß. Er hatte sie beide mit einem scharfen Schnitt getrennt, weil ein kurzer Schnitt am wenigsten wehtat.
Esther war mit diesem schmerzhaften Schnitt einverstanden gewesen. Das war ganz deutlich. Wenn sie gewollt hätte, dann hätte ihr Seidele, wie sie ihn nannte, jeden Wunsch erfüllt. Sie war viel gescheiter gewesen als Christoph.
Es hatte ihr aber genauso wehgetan wie ihm. Das wusste er – ihr Tuch! Abraham hatte den Stein in ihr Tuch eingeschlagen. Ein stummes Zeichen hatte sie ihm zum Abschied geben dürfen.
Am Morgen war die Erkenntnis noch so schmerzhaft wie in der Nacht. Aber er war ein wenig stolz darauf, dass der alte Abraham ihm nichts erklärt hatte. Er hatte ihm vertraut es selbst zu finden. Freilich – sehr lange hatte er dazu gebraucht.
Alles war vor dem Gericht in Stuttgart anders. Er wurde sofort vom Schultheiß empfangen. Einer der Stuttgarter Kaufleute, die an dem Betrug beteiligt gewesen waren, hatte pestkrank im Sterben ausgesagt, dass die Gewichte des Herrn Schimmelfeldt vertauscht worden waren. Auch der andere Kaufmann war an der Pest gestorben. Christoph hätte seine Gewichte und die Briefe nicht vorzulegen brauchen: Es war alles längst entschieden.
Er hätte sogar ohne dies alles zurückkehren können und der Kaufmann hätte kein Geständnis machen müssen: Die Stadt hatte gleich nach dem Ende der Seuche eine allgemeine Begnadigung ausgesprochen. Die Stadt brauchte Menschen.
»Dass dein Vater tot ist, haben wir schon erfahren. Aber jetzt müssen wir dich zuerst ehrlich machen.«
Es geschah kurzerhand und ganz unfeierlich, indem ihm der Schultheiß die Hand auf die Schulter legte, dorthin, wo die Hand des Henkers geruht hatte: »Wir werden es noch heute öffentlich bekannt machen.«
»Wisst Ihr«, sagte der Schultheiß, »Ihr seid sehr willkommen, wir brauchen jeden Mann. Stuttgart ist entvölkert, wie Ihr es Euch gar nicht vorstellen könnt. Fast die Hälfte der Häuser steht leer!«
Mit Ihr und Euch redete ihn der Schultheiß jetzt an!
Der Schultheiß gab ihm die Schlüssel zu seinem Haus, lud ihn dann zum Sitzen ein und sagte noch viel Lobendes über seinen Vater.
»Euch konnten wir während der Pest nicht suchen. Wir hätten in Straßburg Nachforschungen angestellt, wenn Ihr jetzt nicht gekommen wärt. Es deutete einiges darauf hin, dass Ihr nach Straßburg gegangen wart.«
Als Christoph von sich und den Juden erzählte, hörte er kaum zu. »Die Juden. Sie wurden auch bei uns vertrieben, leider einige auch umgebracht«, sagte er. »Es war natürlich ein Fehler. Es war die Angst vor der Pest, man muss das in diesem Zusammenhang sehen. Wir brauchen sie. Wir werden einige zurückholen müssen.«
Über Benfeld wollte der Schultheiß nicht reden.
»Ihr habt jede Unterstützung der Stadt, wenn ihr das Geschäft Eures verewigten Vaters, Gott hab ihn selig, wieder aufbaut, wie Ihr sagt«, verabschiedete ihn der Schultheiß.
Ein seltsames Gefühl der Leere empfand Christoph, als er aus dem Rathaus trat. Dennoch klopfte ihm das Herz, als er mit den schweren Schlüsseln die Gassen aufwärts schritt.
Die schwarze Gestalt einer Aussätzigen, die er früher oft in Stuttgart gesehen hatte, kam ihm entgegen. Er schüttelte den Kopf: Halb Stuttgart ist tot, aber du klapperst noch immer mit deinem Holzteller, als wärst du unsterblich!
Hier war er aufgewachsen. Er ging wie im Schlaf.
Aber dort. Das Bunte auf der Treppe seines Hauses.
Es war keine Täuschung. Es war ein Traum!
Da saß Philo in der Sonne und spielte mit seinen Bällen. Er war bleicher als sonst und viel dünner.
»Ich bin kein Gespenst. Du darfst mir die Hand geben.«
Christoph liefen die Tränen über die Wangen, als er Philo umarmte.
»Nicht jeder stirbt an der Pest. Auch wenn er zum ersten Mal in einem Bett liegt.«
Er war sehr schwach gewesen, als er eines Morgens erwacht war. Die Beulen hatten sich über Nacht geöffnet und taten höllisch weh, das Fieber war vergangen. Taumelnd vor Schwäche hatte er Christoph gesucht, aber das schiefe Haus war leer.
Als er ein wenig bei Kräften war, ging er sehr mühsam in den Schwarzwald zu Balthas und Regine.
Dieses Versteck hatte die Pest nicht gefunden.
»Ich hatte geglaubt, dass du längst nach Stuttgart zurückgekehrt bist. Dass dich die Pest geholt hat, das konnte ich nicht glauben, nachdem sie sogar mich hat laufen lassen.«
Christoph schaute und schaute.
»Kaum war die Pest vorbei und ich von Regine wieder aufgepäppelt – weißt du, es ist noch nicht ganz so geworden wie vorher –, da bin ich dir nachgereist. Aber ich war vor dir in Stuttgart! Es war wunderbar zu erfahren, dass du längst wieder zu Ehre und Ansehen gekommen warst. Und unsere Einbruchpläne waren für die Katz. Ich habe mich halb totgelacht.«
Christoph konnte endlich wieder reden, er setzte sich zu ihm auf die Treppe vor die verschlossene Haustüre: »Es wird schwer werden, dich im Hause unterzubringen, ohne dass du wieder in einem Bett liegst.«
»Keine Angst. Das erste Bett habe ich überlebt. Und der Tod will auch eine Chance.«
Philo wollte noch auf der Treppe bleiben: »Es ist so schön, mit dir in der warmen Sonne zu sitzen.«
Christoph erzählte lange. Er schloss wehmütig, wie er über sein Verhältnis zu Esther dachte – er werde sie suchen im Osten: »Der Diamant gehört nicht mir! Und wenn ich Esther und Nachum nicht finde: Wir sind es den Juden schuldig.«
Philo nickte, er saß da in der Sonne und spielte mit den bunten Bällen.