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»He, Balthas, da sind Leute oben im Wald, am Grunde der Schlucht. Ich glaube, sie kommen hierher.«

»Lass sie kommen«, brummte ein sehr dicker Mann mit einem prächtigen Prophetenbart und einem seltsam geflickten Wams, »lass sie kommen, dann sehen wir, wer sie sind. Kein Grund vom Seil herabzusteigen. Du hast den Purzelbaum noch nicht geübt, wie ich dir gesagt habe.«

»Dabei bricht man sich so leicht den Hals!«

»Eben deshalb muss man ihn üben«, behauptete Balthas ungerührt.

»Wo kommen Leute und was wollen die im Winter in dieser Wildnis?« Ein sehr dickes Frauengesicht schaute aus einem Zelt.

»Die Leute kommen da oben die Schlucht herab, Regine, ich habe sie vom Seil aus gesehen und bin gleich herabgestiegen, um euch zu warnen. Es sind drei Männer und ein Junge. Einer der Männer wird getragen.«

»Ist ein Wolf dabei, dass du uns warnen willst?«, fragte der dicke Balthas und zog an seinem Bart und rollte die Augen so grässlich, dass Philo halb lachend, halb ernst aufschrie.

»Der Wolf ist hier! Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Schlimmeren als dich, der arme Gaukler auf das Seil und in den Tod treibt!«

»Wölfe tragen einander nicht, also sind das keine Wölfe. Und ich ertrage dich, also bin ich auch kein Wolf.«

Regine trat aus dem Zelt: »Dann schürt das Feuer und setzt Essen auf; die werden Hunger haben, wenn sie von da oben kommen.«

»Ja, Regine, und sie werden in Schwierigkeiten sein und Hilfe brauchen – wer kommt sonst auf solchen Wegen vom Gebirge herab!«

Ein Wind war aufgekommen. Man hörte ihn oben, außerhalb der Schlucht in den Wipfeln rauschen, und man spürte ihn jetzt auch unten am Grunde der Schlucht, sodass das Feuer, das Frau Regine in einem eisernen Gefäß aufbewahrte, in Funken davonstob, als es an das Stroh unter einem kleinen Holzstoß gehalten wurde. Dann aber mit einem Prasseln wurden Stroh und Reisig von den Flammen ergriffen, die der Wind mit sich fortriss.

»Na, Philo, wo bleiben denn die Wandersleute, die du gesehen haben willst von deinem Seil aus, anstatt Purzelbäume zu schlagen?« Der dicke Balthas stieg mit überraschender Beweglichkeit in die Schlucht hinein: »Ich kann mir schon denken, was los sein wird, komm mit!«

Tatsächlich hörten sie bald das Krachen von Zweigen, Scharren von Stiefeln und das Keuchen mehrerer Männer, die aus der engen Schlucht hangaufwärts hinausstrebten, nachdem sie die Menschen weiter unten in der Schlucht bemerkt hatten.

Schon war Philo seitwärts aus der Schlucht aufwärts gestiegen und hatte die Fremden überholt. Dann ließ er sich wie vorher auf dem Hosenboden zu den Ankömmlingen hinabgleiten und schnitt solche Grimassen, dass Christoph laut lachen musste, obwohl sein Herz hämmerte.

Lukas und Melchior, die den Vater trugen, waren stehen geblieben, als der dünne Mensch, dessen Gesicht sie von weiter oben plötzlich über den Baumwipfeln gesehen hatten, schließlich mit lauter Purzelbäumen vor sie hinrollte. Der dünne Mann war barfuß und trug eine verwaschene, graue Kleidung, die sich kaum von der eines Bauern unterschied, in seinem Gürtel steckte eine Flöte.

»Bist du ein Bewohner der Luft?«, fragte Melchior, dem immer noch der Atem wegblieb vor Eile am Hang und vor Schreck, als da offenbar einer der Geister über der Schlucht in den Lüften schwebte.

»So halb und halb, meines Namens Philo, dem Namen nach also ein Mensch«, sagte der dünne Mann beim Abstieg, »wenn auch nicht immer behandelt wie ein Mensch von Balthas, den ich euch hiermit vorstelle, dem Anführer unserer Gauklertruppe: ein Mann, eine Frau, ein Junge, das bin ich, wenn auch eigentlich schon zu alt für diese Rolle.«

»Halt’s Maul, du Nichtsnutz«, antwortete Balthas mit einer ruhigen Bassstimme. »Kümmert euch nicht um ihn. Sein Mundwerk ist rascher fertig als sein Hirn. Es muss auch solche Leute geben. Was ist mit euch? Aber kommt erst ans Feuer.«

Aber bald brach der Sturm los und stieß gegen sie wie eine Wand, dass man am Feuer nicht mehr sitzen konnte. Sie mussten in das Zelt.

»Und wenn es nicht am Grunde der Schlucht stehen würde, so würde es der Sturm glatt umreißen«, sagte Balthas, der mit seiner Leibesfülle jedem Sturm zu trotzen schien.

Bald war alles erzählt, auch die Zahlen. Draußen tobte der Sturm, dass die Zeltwände flatterten, er blies, als der Eingang bei einem besonders heftigen Stoß aufklaffte, mit einem Schwall kalter Luft eine Wolke von Schneeflocken herein.

Balthas löschte die Laterne.

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn – ich meine, ich hätte die Zahlen schon einmal gehört. Es hatte etwas mit Feuer zu tun, glaube ich«, sagte Balthas in das Dunkel hinein. Die Zeltwand knallte.

»Gnade uns Gott, wenn uns das Unwetter auf der Grinde erwischt hätte«, sagte Lukas leise.

»Jedenfalls hätte dann der Florian nicht abhauen können«, vernahm man die Stimme von Melchior.

»Brusthoch schmeißt das heute Nacht den Schnee hin, dass kein Mensch mehr durchkommt.«

»Hört ihr, der Philo ist der Schlauste, der schnarcht schon.« Regines Stimme klang müde.

»Du hast die Zahlen schon einmal gehört?« Die Stimme des Gefolterten zitterte.

»Wie es draußen heult! Morgen früh ist es so kalt, dass die Bären erfrieren, wenn du sie aus ihrer Höhle gräbst.« Melchior gähnte.

»Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn«, sagte Balthas mit abwesender Stimme.

»Es kann tagelang weiterstürmen. Und je länger es stürmt und schneit, desto kälter wird es.« Melchior ließ sich nicht abbringen.

Balthas fuhr fort: »Man zaubert damit. Es hat mit Feuer zu tun. Es ist wie ein Feuer, mit dem man zaubert.«

Christoph klammerte sich an den Ärmel des Vaters.

»Es ist Zauberei. Irgendwann habe ich von diesen Zahlen gehört, aber ich weiß nicht, wann und wo.« Eine Bö drückte die Zeltwand weit nach innen, sie knatterte, dass man Balthas kaum verstand.

»Was kann man denn damit zaubern?«, fragte Christoph atemlos.

»Gaukelei – nichts als Gaukelei.« Die Stimme des Vaters war angestrengt und gepresst, er hatte schon lange nicht mehr so laut gesprochen. Es lag Ungeduld in ihr: »Verzeihung, aber diese Gauklergeschichten bringen uns keine Handbreit weiter.«

Ein Gaukler in der Einöde hat schon von diesen Zahlen gehört!, dachte Christoph überrascht. Warum verfolgt man dann gerade uns so schrecklich?

»Sie haben es auf den Marktplätzen gebraucht, aber ich weiß nicht, wie und wo. Es muss sehr erfolgreich gewesen sein: Wer es wusste, hat das Geheimnis nicht weitergegeben. Irgendeine Zauberei!«

»Die Kaufleute von Straßburg machen keine Gauklervorstellungen auf Jahrmärkten!« Die Stimme des Vaters, so dünn sie geworden war, klang grob, fast höhnisch, begleitet von diesem Keuchen und diesem seltsamen Pfeifen, das in den letzten Tagen immer schlimmer geworden war.

Christoph starrte in das Dunkel. Draußen heulte der Sturm. Durch die Ritzen herein stieß immer wieder ein schneidend kalter Luftzug. Aber sonst war es hier behaglich. Die sieben Menschen machten den Raum angenehm warm. Er lag eng an den Arm seines Vaters geschmiegt.

Der Vater hatte nicht geantwortet; als er ihn gefragt hatte, ob das wehtun würde. Er hörte seinen keuchenden Atem neben sich.

Christoph hatte sich oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man sie hingerichtet hätte: Das Elend, die tägliche Angst, die Demütigungen, wenn einem die Leute aus dem Weg gingen. Oft war es ihm, als wolle etwas in ihm losweinen. Aber der Vater weinte nicht, nie. Er lachte auch nicht mehr.

Wie war früher das Leben schön gewesen! Christoph hatte alles gehabt, was er nur brauchte und haben wollte. Gutes Essen, nie Hunger, nie Kälte, schöne Kleider, ein eigenes Pferd. Die Mutter hatte viel gelacht. Jetzt war sie schon so lange tot.

Der Vater war oft auf Reisen gewesen, aber er hatte ihm immer etwas mitgebracht, der Mutter, ihm und den Geschwistern, seltene und kostbare Dinge, die von sehr weit her kamen. Der Mutter hatte er einmal eine kunstvoll durchbrochene elfenbeinerne Kugel geschenkt mit einem fremdartigen Muster, die alle bewundert hatten. In ihr war wieder eine durchbrochene Kugel mit demselben Muster und darin wieder eine und so fort, und alle Kugeln ließen sich bewegen.