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Schwester der Finsternis

Terry Goodkind

1

Sie konnte sich nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Mit einem unbestimmten Gefühl der Besorgnis fragte sie sich, ob die aufgebrachten Stimmen, die aus der Ferne an ihr Ohr drangen, bedeuteten, dass ihr die Erfahrung dieses die Grenzen des Bewusstseins überschreitenden Endes ein weiteres Mal bevorstand: ihres eigenen Todes.

Sollte dem in der Tat so sein, dann konnte sie nicht das Geringste dagegen tun.

Zwar erinnerte sie sich nicht an ihren Tod, dafür aber umso besser an ernste, tuschelnde Stimmen, die irgendwann – wohl zu einem späteren Zeitpunkt – davon gesprochen hatten, sie sei gestorben, der Tod habe sie ereilt, er aber habe seinen Mund auf ihren gepresst, ihre leblos gewordenen Lungen mit seinem Atem gefüllt und so den ihren auf diese Weise zu neuem Leben erweckt.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, wer das gewesen sein mochte, der von einem so unglaublichen Bravourstück sprach, oder wer dieser er sein sollte.

In jener ersten Nacht, in der die fernen, körperlosen Stimmen für sie kaum mehr gewesen waren als eine verschwommene Ahnung, hatte sie begriffen, dass um sie herum Menschen standen, die – obwohl sie inzwischen wieder lebte – nicht daran glaubten, dass sie diese Nacht überleben würde. Mittlerweile aber wusste sie, sie hatte überlebt, sie war, vielleicht als Antwort auf die verzweifelten Gebete und feierlichen Schwüre, die man in jener ersten Nacht mit gedämpfter Stimme an ihrem Lager gesprochen hatte, noch viele Nächte lang am Leben geblieben.

Doch auch wenn sie sich nicht an das Sterben selbst erinnerte, die Schmerzen kurz vor dem Eintauchen in die große Vergessenheit waren ihr noch in Erinnerung, diese Schmerzen würde sie niemals vergessen. Sie entsann sich, wie sie ganz auf sich gestellt und voller Wut gegen all diese Männer gekämpft hatte, Männer, die ihre Zähne bleckten wie ein Rudel wilder Hunde bei einem Hasen. Sie erinnerte sich an den Hagel brutaler Schläge, der sie zu Boden gezwungen, an die schweren Stiefel, die auf sie eingetreten hatten, als sie dort lag, und an das scharfe Knacken brechender Knochen. Sie erinnerte sich an das Blut, an die Unmengen von Blut an ihren Fäusten und Stiefeln. Sie erinnerte sich an das glühende Entsetzen, angesichts dieser Qualen nicht mal mehr die Luft zum Keuchen zu haben, keine Luft, um gegen die erdrückende Last der Schmerzen mit einem Schrei zu protestieren.

Als sie einige Zeit später – ob Stunden oder Tage, vermochte sie nicht zu sagen – unter sauberen Laken in einem unbekannten Bett liegend in seine grauen Augen hochgesehen hatte, war ihr bewusst geworden, dass die Welt für manch einen noch schlimmere Schmerzen bereithielt, als sie sie erlitten hatte.

Seinen Namen kannte sie nicht. Die tiefe Besorgnis, die ihm so deutlich in den Augen abzulesen war, verriet ihr unmissverständlich, dass sie ihn hätte kennen sollen. Sie wusste, sie hätte seinen Namen – mehr als ihren eigenen, mehr noch als das Leben selbst – kennen müssen, doch war dies nicht der Fall. Nichts hatte sie je mehr beschämt.

Wann immer sie in der Folgezeit die Augen geschlossen hatte, sah sie seine, nicht nur das hilflose Leid darin, sondern auch das Leuchten einer leidenschaftlichen Hoffnung, die nur wahre Liebe entflammt haben konnte. Irgendwo, sogar noch in der tiefsten Finsternis, die ihren Geist zu ersticken drohte, sperrte sie sich dagegen, das Leuchten in seinen Augen durch ihre Unfähigkeit, sich kraft ihres Willens zum Weiterleben zu zwingen, erlöschen zu lassen.

Irgendwann fiel ihr dann wieder sein Name ein. Meist wusste sie ihn, mitunter aber auch nicht. Manchmal, wenn der Schmerz sie zu erdrücken drohte, vergaß sie sogar ihren eigenen Namen.

Als Kahlan jetzt Männer mürrisch seinen Namen brummen hörte, wusste sie ihn, und sie wusste auch, wem er gehörte. Mit hartnäckiger Entschlossenheit klammerte sie sich an diesen Namen – Richard – und an ihre Erinnerung an den dazugehörigen Menschen: wer er war und was er ihr bedeutete.

Selbst später, als die Leute befürchteten, sie könnte doch noch sterben, wusste sie, sie würde überleben. Sie hatte gar keine andere Wahl – Richard, ihrem Mann zuliebe. Und ihrem Kind zuliebe, das sie unter dem Herzen trug. Seinem Kind. Ihrer beider Kind.

Das Geschrei der aufgebrachten Männer, die Richard beim Namen riefen, ließ Kahlan schließlich mühsam die Augen öffnen. Sie blinzelte gegen die heftigen Schmerzen an, die unter der schützenden Hülle des Schlafes zwar nachgelassen hatten, aber noch nicht vertrieben worden waren. Ein zartes, bernsteinfarbenes Licht schlug ihr entgegen, das den Raum um sie herum füllte. Da das Licht hell war, folgerte sie, vor dem Fenster müsse eine Abdeckung hängen, die das Sonnenlicht dämpfte, vielleicht wurde es aber auch gerade dunkel. Wenn sie wie jetzt aufwachte, fehlte ihr nicht nur jedes Gefühl für Zeit, sondern auch dafür, wie lange sie geschlafen hatte.

Sie rieb ihre Zunge gegen den teigig trockenen Belag in ihrem Mund. Ihr Körper war bleiern vom schwerfälligen Schlaf, der noch immer nicht weichen wollte. Ihr war so übel wie damals, als sie noch klein gewesen war und vor einer Bootsfahrt an einem heißen, windigen Tag drei Paradiesäpfel verschlungen hatte. Genauso heiß war es auch jetzt: sommerlich heiß. Sie mühte sich, vollends aufzuwachen, doch ihr erwachendes Bewusstsein, hin und her geworfen auf einem unermesslich weiten Schattenmeer, schien seinem Schicksal preisgegeben. Ihr Magen drehte sich, und plötzlich musste sie alle ihre Gedanken darauf konzentrieren, sich nicht zu übergeben. Sie wusste nur zu gut, dass in ihrem gegenwärtigen Zustand nur wenige Dinge schmerzhafter wären als zu brechen. Ihre Lider schlossen sich erneut, und sie sank hin an einen noch viel düstereren Ort.

Sie fing sich, zwang ihre Gedanken an die Oberfläche und öffnete durch pure Willenskraft erneut die Augen. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Man verabreichte ihr Kräuter, um die Schmerzen zu betäuben und damit sie schlafen konnte. Zumindest halfen ihr die Kräuter, in einen benommenen Schlaf zu sinken, doch der Schmerz fand sie auch dort, wenn auch nicht in seiner vollen Schärfe.

Langsam, vorsichtig, um die doppelschneidigen Dolche nicht zu drehen, die sich da und dort zwischen ihre Rippen zu bohren schienen, wagte sie einen tieferen Atemzug. Der Wohlgeruch von Balsam und Fichten füllte ihre Lungen und half ihren Magen zu beruhigen. Das war nicht der Duft von Bäumen, vermischt mit den anderen Gerüchen des Waldes, mit feuchter Erde, großen Blätterpilzen und Zimtfarnen, sondern der angenehme Geruch frisch gefällter und abgeästeter Stämme. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Blick über das Fußende des Bettes hinaus zu richten, und erblickte eine Wand aus blassem, frisch entrindetem Holz, aus dessen frischen Axtkerben hier und da Harz hervorsickerte. Das Holz sah aus, als sei es in großer Eile geschlagen und gespalten worden, seine Passgenauigkeit jedoch verriet eine Präzision, die nur Wissen und Erfahrung einem verleihen kann.

Das Zimmer war winzig. Im Palast der Konfessoren, wo sie aufgewachsen war, wäre ein so kleiner Raum nicht einmal als Wäscheschrank durchgegangen, außerdem wäre er aus Stein gewesen, wenn nicht gar aus Marmor. Das winzige hölzerne Zimmer gefiel ihr. Vermutlich hatte Richard es zu ihrem Schutz errichtet, fast war es, als habe er seine schützenden Arme um sie gelegt. Die reservierte Erhabenheit von Marmor hatte ihr nie ein vergleichbares Gefühl der Behaglichkeit vermittelt.

Hinter dem Fußende des Bettes erblickte sie die Schnitzerei eines Vogels im Flug. Sie war mit wenigen Messerhieben in einen Stamm der Wand gemeißelt worden, auf eine ebene Stelle, nur wenig größer als ihre Hand. Richard hatte ihr etwas dagelassen, das sie betrachten konnte. Manchmal, wenn sie um ein Lagerfeuer saßen, hatte sie ihm dabei zugesehen, wie er, ganz nebenbei, aus einem Stück Holz ein Gesicht oder ein Tier schnitzte. Der Vogel, der auf seinen ausgebreiteten Schwingen schwebend über sie wachte, vermittelte ein Gefühl von Freiheit.

Wenn sie ihre Augen nach rechts drehte, sah sie eine braune Wolldecke vor der Tür hängen. Von jenseits der Tür drangen Fetzen aufgebrachter, drohender Stimmen herein.