»Habt Ihr sie alle erwischt?«, fragte Cara aus Sorge, jemand könnte entkommen sein und ihnen noch mehr Männer auf die Fersen hetzen.
»Ja. Die meisten von ihnen kannte ich, außerdem hatte ich mir ihre Zahl gemerkt. Ich habe die Toten gezählt, um sicherzugehen, dass ich alle erwischt hatte.«
»Wie viele waren es?«, fragte Cara.
Richard drehte sich um und nahm die Zügel in die Hand. »Für das, was sie vorhatten, nicht genug.« Er schnalzte mit der Zunge und ließ die Pferde anziehen.
5
Richard stand auf und zog sein Schwert. Als dessen charakteristisches Geräusch diesmal in die Nacht hinaushallte, lag Kahlan wach. Instinktiv war ihr erster Gedanke, sich aufzusetzen. Noch bevor sie Zeit fand, es sich eines Besseren zu überlegen, war Richard bereits in die Hocke gegangen und hatte sie mit sanfter Hand zurückgehalten. Sie hob gerade weit genug ihren Kopf, um zu erkennen, dass es Cara war, die einen Mann in den grellen, flackernden Schein des Lagerfeuers führte. Richard schob sein Schwert zurück in die Scheide, als er sah, wen Cara bei sich hatte: Captain Meiffert, den d’Haranischen Offizier, der sie bereits in Anderith begleitet hatte.
Noch bevor es zu einer anderen Form der Begrüßung kam, ließ der Mann sich auf die Knie fallen und beugte sich vor, bis er mit der Stirn den weichen, mit Fichtennadeln übersäten Untergrund berührte.
»Herrscher Rahl, führe uns. Herrscher Rahl, lehre uns. Herrscher Rahl, beschütze uns. In deinem Licht gedeihen wir. In deiner Gnade finden wir Schutz. Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Als er auf die Knie sank, um die Andacht, wie sie genannt wurde, zu sprechen, beobachtete Kahlan, wie Cara beinahe reflexartig mit ihm auf die Knie ging, so eingefleischt war dieses Ritual. Alle D’Haraner sprachen dieses Bittgebet an ihren Lord Rahl. An der Front wurde es gewöhnlich einmal, zu bestimmten Anlässen auch dreimal aufgesagt. Im Palast des Volkes in D’Hara versammelte sich der größte Teil der Bevölkerung zweimal täglich, um die Andacht ausgiebig zu psalmodieren.
Während seiner Zeit als Gefangener Darken Rahls war auch Richard von einer Mord-Sith auf die Knie gezwungen worden und hatte diese Andacht, oft in fast demselben Zustand wie Tommy Lancaster unmittelbar vor seinem Tod, stundenlang hintereinander aufsagen müssen. Jetzt huldigten die Mord-Sith, wie alle D’Haraner, in dieser Weise Richard. Wenn die Mord-Sith diese Wendung der Ereignisse als unwahrscheinlich erachteten oder darin eine Ironie sahen, so sprachen sie es zumindest niemals offen aus. Viel unwahrscheinlicher fanden viele von ihnen den Umstand, dass Richard sie nicht allesamt hatte hinrichten lassen, nachdem er ihr Lord Rahl geworden war.
Dabei war es Richard gewesen, der herausgefunden hatte, dass die Andacht an den Lord Rahl tatsächlich das überlebende Zeugnis der Bande war, einer uralten Magie, ins Leben gerufen von einem seiner Vorfahren, um das Volk der D’Haraner vor den Traumwandlern zu schützen. Lange Zeit hatte man geglaubt, die Traumwandler – von Zauberern als Waffe während jenes nahezu vergessenen Krieges in grauer Vorzeit geschaffen – seien vom Angesicht der Welt verschwunden. Das Heraufbeschwören merkwürdiger und vielfältiger Fähigkeiten – das Versehen der Menschen mit unnatürlichen Eigenschaften, gegen ihren Willen oder nicht – war einst eine geheimnisvolle Kunst gewesen, deren Resultate stets zumindest unvorhersehbar, oft ungewiss und manchmal auf gefährliche Weise instabil waren. Irgendwie war ein Funken dieser bösartigen Manipulationen, die dreitausend Jahre im Verborgenen auf der Lauer gelegen hatten, von Generation zu Generation weitergegeben worden, bis er sich in der Person Kaiser Jagangs schließlich aufs Neue entzündet hatte.
Kahlan wusste so manches über die Umwandlung lebender Wesen zu einem bestimmten Zweck – Konfessoren gehörten ebenso zu diesen Menschen wie einst die Traumwandler. Sie sah in Jagang ein von Magie geschaffenes Ungeheuer und wusste, dass viele Menschen in ihr dasselbe sahen. Manche Menschen hatten blondes Haar oder braune Augen, sie war dazu geboren, groß zu werden, mit Haar von einer warmen, braunen Farbe, mit grünen Augen und den Fähigkeiten einer Konfessor, dabei hatte sie ebenso Freude an den Dingen, lachte sie ebenso gerne und hatte sie die gleichen Wünsche wie jene, die mit blondem Haar oder braunen Augen, aber ohne die speziellen Fähigkeiten einer Konfessor geboren wurden.
Kahlan machte aus triftigen moralischen Gründen von ihrer Kraft Gebrauch. Zweifellos glaubte Jagang dasselbe von sich, und selbst wenn nicht, so glaubten dies ganz sicher die meisten seiner Anhänger.
Auch Richard war mit einer verborgenen Kraft geboren worden. Der uralte, mit seiner Person verbundene Schutzmechanismus der Bande wurde an jeden mit der Gabe gesegneten Rahl weitervererbt. Ohne den Schutz der Bande zu Richard – dem Lord Rahl – ob förmlich ausgesprochen oder als tiefe, stillschweigende Verwandtschaft empfunden – war jedermann Jagangs Macht als Traumwandler ausgeliefert.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Veränderungen, die Zauberer bei lebenden Menschen bewirken, war die Fähigkeit einer Konfessor stets lebendig geblieben; zumindest galt dies bis zur Ermordung aller anderen Konfessoren auf Befehl Darken Rahls. Jetzt, da es solche Zauberer mit ihren ganz besonders ausgebildeten Zauberkünsten nicht mehr gab, würde die Konfessor-Magie nur weiterexistieren, wenn Kahlan Kinder bekam.
Gewöhnlich brachten Konfessoren Mädchen zur Welt, aber nicht immer. Ursprünglich war die Kraft einer Konfessor ausschließlich dafür geschaffen und bestimmt gewesen, von Frauen eingesetzt zu werden. Wie alle anderen Zaubermittel, die den Menschen von der Natur nicht vorgesehene Fähigkeiten eröffneten, hatte auch dieses unvorhergesehene Folgen: Es stellte sich heraus, dass auch die männlichen Kinder einer Konfessor diese Kraft besaßen. Nachdem man hatte erfahren müssen, wie tückisch sich diese Kraft bei Männern auswirken konnte, sonderte man alle männlichen Kinder bedenkenlos als minderwertig aus.
Dass Kahlan ein männliches Kind zur Welt bringen könnte, entsprach exakt den Befürchtungen der Hexe Shota. Shota war sich sehr wohl bewusst, dass Richard niemals wegen früherer Schandtaten männlicher Konfessoren der Tötung seines und Kahlans Sohn zustimmen würde. Auch Kahlan würde niemals zulassen, dass Richards Sohn getötet wurde. Die Unfähigkeit einer Konfessor, aus Liebe zu heiraten, hatte früher stets als eine der Begründungen dafür herhalten müssen, dass sie die Praxis der Kindestötung gefühlsmäßig ertrug. Indem er herausfand, wie er und Kahlan sich vereinigen konnten, hatte Richard auch diese Gleichung verändert.
Aber Shota hatte nicht einfach nur Angst, Kahlan könnte einen männlichen Konfessor gebären, ihre Befürchtungen bezogen sich auf etwas von möglicherweise weitaus größerem Gewicht – sie konnte einen männlichen Konfessor zur Welt bringen, der Richards Gabe besaß. Shota hatte geweissagt, Kahlan und Richard würden ein männliches Kind zeugen; ein solches Kind galt in Shotas Augen als bösartiges Ungeheuer, dessen Gefährlichkeit jedes Begriffsvermögen sprengte, daher hatte sie geschworen, ihren Nachwuchs zu beseitigen. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, hatte sie ihnen jene Halskette geschenkt, die verhindern sollte, dass Kahlan schwanger wurde…
Kahlan fiel auf, dass Captain Meiffert die Andacht ein drittes Mal sprach, während Caras Lippen sich synchron zu seinen bewegten. Das leise Psalmodieren ließ Kahlan schläfrig werden.
Für Kahlan war es ein Luxus, unten im geschützten Lager bei Richard und Cara neben dem warmen Feuer liegen zu können, statt im Wagen bleiben zu müssen, zumal die Nacht kalt und feucht geworden war. Dank der Trage fiel es ihnen leichter, sie zu transportieren, ohne ihr übermäßig wehzutun.