Richard kehrte zurück, schwer beladen mit der Schlafdecke und den Satteltaschen des Captains. Er ließ alles neben dem Offizier zu Boden gleiten, schüttelte das Wasser von sich ab und ließ sich neben Kahlan nieder. Dann bot er ihr einen Schluck aus einem vollen Wasserschlauch an, den er mitgebracht hatte. Sie nahm nur einen kleinen Zug; sie war mehr daran interessiert, ihm ihre Hand aufs Bein legen zu können.
Richard gähnte. »Also, Captain Meiffert, Ihr sagtet, der General wünscht, dass Ihr mir ausgiebig Bericht erstattet?«
»So ist es, Sir.« Der Captain setzte zu einer langen und umständlichen Darstellung des Zustandes der Armee im Süden an, wie sie draußen in der Ebene stationiert sei, welche Pässe im Gebirge bewacht wurden und wie man plante, das Gelände zu nutzen, sollte die Imperiale Ordnung plötzlich aus Anderith heraufmarschieren und nach Norden in die Midlands einfallen. Er berichtete über den Gesundheitszustand der Soldaten und die Vorratslage – beides gut. Die andere Hälfte von General Reibischs d’Haranischen Streitkräften stand unten in Anderith und sicherte die Stadt, und Kahlan war erleichtert zu hören, dass dort alles zum Besten stand.
Captain Meiffert gab sämtliche Nachrichten weiter, die man aus allen Teilen der Midlands erhalten hatte, darunter auch aus Kelton und Galea, zwei der größten Länder der Midlands, die mittlerweile mit dem neuen D’Haranischen Reich verbündet waren. Die verbündeten Länder leisteten einen Beitrag zur Versorgung der Armee, stellten darüber hinaus Männer für die wechselnden Patrouillen bereit, kundschafteten das ihnen vertrautere Land aus und übernahmen andere Arbeiten.
Kahlans Halbbruder, Harold, hatte die Nachricht überbracht, der Zustand von Cyrilla, Kahlans Halbschwester, habe sich gebessert. Cyrilla war ehemals Königin Galeas gewesen. Nach ihrer brutalen Behandlung in Feindeshand war sie seelisch aus dem Gleichgewicht geraten und nicht mehr im Stande, ihr Amt als Königin zu bekleiden. In einem ihrer seltenen wachen Augenblicke hatte sie Kahlan aus Sorge um ihr Volk gebeten, an ihrer Stelle Königin zu werden. Kahlan hatte widerstrebend eingewilligt, aber darauf bestanden, dass dies nur gelte, bis es Cyrilla wieder besser ging. Nur wenige hatten geglaubt, sie würde jemals ihren Verstand wiedererlangen, offenbar deutete jedoch alles darauf hin, dass sie sich wieder erholen würde.
Um die aufgepeitschten Wogen in Galeas Nachbarland Kelton zu glätten, hatte Richard Kahlan darüber hinaus zur Königin Keltons ernannt. Als Kahlan davon erfuhr, was Richard getan hatte, hatte sie es zuerst für Irrsinn gehalten. So seltsam diese Übereinkunft war, sie stellte beide Länder zufrieden und brachte ihnen nicht nur Frieden untereinander, sondern führte sie auch in den Schoß jener Länder, die vereint gegen die Imperiale Ordnung kämpften.
Cara war angenehm überrascht, als sie erfuhr, eine Reihe von Mord-Sith sei – für den Fall, dass Lord Rahl sie brauchte – im Palast der Konfessoren in Aydindril eingetroffen. Berdine würde sich bestimmt freuen, einige ihrer Mord-Sith-Schwestern in Aydindril um sich zu haben.
Kahlan vermisste Aydindril. Vermutlich ließ sich der Ort, an dem man aufgewachsen war, nie ganz aus dem Herz verbannen. Als sie dabei an Richard dachte, versetzte ihr das einen kummervollen Stich.
»Das dürfte Rikka sein«, sagte Cara strahlend. »Wartet, bis sie den neuen Lord Rahl kennen lernt«, fügte sie im Flüsterton hinzu. Die Vorstellung war für sie offenbar noch mehr ein Grund zu lächeln.
Kahlans Gedanken kehrten zu den Menschen zurück, die sie der Imperialen Ordnung ausgeliefert hatten – oder präziser, die sich für die Imperiale Ordnung entschieden hatten. »Habt Ihr irgendwelche Berichte aus Anderith erhalten?«
»Ja, von einer Reihe von Soldaten, die wir dorthin entsandt hatten. Ich fürchte, wir haben dabei auch einige verloren. Wer zurückkam, berichtete, die vergifteten Gewässer hätten weniger feindliche Verluste bewirkt als erhofft. Nachdem die Imperiale Ordnung dahinter gekommen war, dass ihre Soldaten starben oder erkrankten, ging sie dazu über, die dortige Bevölkerung alles vorkosten zu lassen. Ein Teil starb oder wurde krank, doch weit verbreitet war das nicht. Der Einsatz der Bevölkerung als Vorkoster für Wasser und Lebensmittel ermöglichte es ihnen, die vergifteten Nahrungsmittel auszusortieren und zu vernichten. Die Armee hatte in letzter Zeit einfach alles beschlagnahmt – sie verbraucht Nahrungsmittel in ungeheuren Mengen.«
Angeblich hatte die Imperiale Ordnung die größte Armee seit Menschengedenken aufgestellt. Kahlan wusste, dass die Berichte größtenteils der Wahrheit entsprachen. Die Armee dieses Ordens übertraf die gegen sie aufgestellten Truppen D’Haras und der Midlands vielleicht um das Zehn- oder gar Zwanzigfache – einigen Berichten zufolge sogar um mehr – und ließ diese im Vergleich kümmerlich erscheinen. In manchen Berichten wurde behauptet, die Streitkräfte der Neuen Welt seien im Verhältnis eins zu hundert in der Minderheit, doch das tat Kahlan als ausgesprochene Panikmache ab. Sie wusste nicht, wie lange die Imperiale Ordnung Anderith aussaugen würde, bevor sie weiterzog, oder ob sie aus der Alten Welt mit Nachschub versorgt wurde. Anders war es ohnehin nicht möglich – bis zu einem gewissen Grade jedenfalls.
»Wie viele Kundschafter und Spione haben wir verloren?«, fragte Richard.
Captain Meiffert sah auf. Es war das erste Mal, dass Richard eine Frage stellte. »Möglicherweise werden sich einige von ihnen noch zurückmelden, aber wahrscheinlich haben wir fünfzig bis sechzig Mann verloren.«
Richard seufzte. »Und General Reibisch ist der Meinung, diese Information war es wert, die Männer zu verlieren?«
Captain Meiffert suchte nach einer Antwort. »Wir wussten ja nicht, was wir herausfinden würden, Lord Rahl, deswegen haben wir sie ja ausgesandt. Wollt Ihr, dass ich dem General mitteile, er soll keine weiteren Männer aussenden?«
»Nein, er muss tun, was er für angemessen hält. Ich habe ihm erklärt, dass ich keine Befehle erteilen kann.«
Kahlan hatte Richard gelegentlich dabei beobachtet, wie er zum Zeitvertreib Tiere oder Menschen schnitzte. Einmal hatte sie die starke Vermutung geäußert, sein Geschick sei von seiner Gabe beeinflusst. Er hatte sich über diese Vorstellung lustig gemacht und gesagt, er schnitze schon seit seiner Kindheit gern. Sie erinnerte ihn daran, dass diese Kunst für das Aussprechen von Bannen benutzt wurde und man ihn einst mit Hilfe eines gezeichneten Banns gefangen genommen habe.
Er beharrte darauf, dass es sich um nichts dergleichen handele. Als Waldführer, sagte er, habe er beim Kampieren so manchen einsamen Abend mit Schnitzereien verbracht. Da er das zusätzliche Gewicht nicht mitschleppen wollte, hatte er die fertigen Stücke meist einfach ins Feuer geworfen. Schnitzen mache ihm Spaß, außerdem könne er stets ein neues Stück beginnen. Kahlan hielt die Schnitzereien für beseelt und fand es beunruhigend, zu sehen, dass sie vernichtet wurden.
»Was beabsichtigt Ihr zu tun, Lord Rahl? Wenn ich fragen darf.«
Richard führte einen glatten, gleichmäßigen Schnitt aus, der den Umriss eines Ohrs festlegte und ihm in Verbindung mit dem bereits geschnitzten Schwung des Kiefers Lebendigkeit verlieh. Er sah auf und blickte unverwandt hinaus in die Nacht.
»Wir werden uns an einen Ort oben in den Bergen begeben, wo niemand hinkommt und wo wir für uns sein können und in Sicherheit. Dort kann sich die Mutter Konfessor auskurieren und wieder zu Kräften kommen. Vielleicht schaffe ich es während unseres Aufenthaltes dort sogar, Cara zu überreden, mit dem Kleidertragen anzufangen.«