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»Ich bin Richard Cyphers Frau, Protektor Muksin. Ich war schon einmal hier und habe eine Gebühr entrichtet, um ihn besuchen zu können. Ihr habt mir die Strafe erläutert.«

Er nickte. »Ich empfange so viele.«

»Seht doch«, sagte Mr. Cascella. »Wir haben eine Menge Geld für die Strafe. Das heißt, nur wenn wir sie heute bezahlen und Richard Cypher auslösen können. Ein Teil des Geldes gehört Leuten, die zu der Spende morgen vielleicht schon nicht mehr bereit sind.«

Der Schmied schob ihm vier weitere Goldmünzen über den Tisch. Die dunklen Augen des Protektors schienen nicht beeindruckt.

»Das Geld gehört dem Volk. Es gibt viel Bedürftigkeit.«

Nicci nahm an, dass sich diese Bedürftigkeit im Wesentlichen auf seine eigene Tasche bezog und dass er sich nur deshalb zierte, weil er ein noch besseres Angebot rausschinden wollte. Als wollte er den unausgesprochenen Vorwurf entkräften, schob Volksprotektor Muksin die acht Goldmünzen – ein Vermögen nach jedem normalen Maßstab – zurück über den Tisch.

»Der Betrag wird nicht hier entrichtet; wir haben dafür keine Verwendung. Wir sind bescheidene Diener des Ordens. Für gewöhnlich wird die Höhe der Strafe im Hauptbuch vermerkt, doch dafür müsstet Ihr es einem Bürgerkomitee für die Verteilung an die Bedürftigen aushändigen.«

Nicci war überrascht, dass sie sich in dem Mann getäuscht hatte.

Er war tatsächlich ein ehrlicher Beamter. Das verlieh dem Handel einen völlig anderen Charakter. Sie schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht würde es doch gar nicht so schwierig werden, Richard freizubekommen.

Hinter ihr, auf der anderen Seite der niedrigen Trennwand, drängten sich wehklagende Frauen, weinende Kinder und betende Bürger. Nicci bekam in dem von Gestank erfüllten, stickig heißen Saal kaum Luft. Sie hoffte, der Beamte ließe sich dazu bewegen, den Fall schnell abzuwickeln, damit er sich der kleinen Gruppe aus Gardisten annehmen konnte, die in den Nebenräumen auf Papiere und Anweisungen warteten.

»Ihr macht jedoch einen Fehler«, fügte der Protektor hinzu, »wenn Ihr glaubt, Ihr könntet die Freilassung dieses Mannes mit Geld erkaufen. Das Leben eines Einzelnen interessiert den Orden nicht, denn kein einziges Menschenleben ist wirklich von Bedeutung. Ich bin geneigt, Euch zu raten: Behaltet das Geld – bis wir Gelegenheit hatten, zu prüfen, wie es möglich ist, dass jemand über einen derart hohen Geldbetrag verfügt. Meiner Ansicht nach muss dieser Mann eine zerstörerische Wirkung auf die bürgerliche Ordnung haben, wenn er so viel Unterstützung weckt. Kein einzelner Mann ist besser als die anderen. Dass er so viel Geld beschaffen kann, um sich durch Bestechung von seiner gerechten Strafe freizukaufen, bestätigt meinen Verdacht, dass er etwas zu gestehen hat.«

Sein Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte, um sie genau in Augenschein zu nehmen. »Wie es scheint, seid Ihr drei nicht dieser Meinung – und haltet ihn für besser als andere.«

»Ach was«, meinte der Schmied ganz beiläufig, »er ist bloß unser Freund.«

»Der Orden ist Euer Freund. Eure Sorge sind die Bedürftigen. Es steht Euch nicht an, einen Menschen anderen vorzuziehen. Ein derart unziemliches Verhalten kommt einer Gotteslästerung gleich.«

Die drei vor dem Schreibtisch verstummten. Das Wehklagen in ihrem Rücken, das Jammern und das von Panik erfüllte Beten um diejenigen, die tief unten in der Dunkelheit einsaßen, hielt unvermindert an. Was immer sie vorbrachten, es schien den Mann nur noch mehr gegen sie aufzubringen.

»Wenn er etwas gelernt hätte, lägen die Dinge vielleicht anders. Es besteht ein großer Bedarf an gelernten Arbeitskräften, die den Orden unterstützen. Viele zögern, statt alles daranzusetzen, ihren Beitrag zu leisten. Wer etwas kann, hat auch die Pflicht –«

Dann wurde es Nicci in einem einzigen gleißenden Augenblick schlagartig klar.

Sie trat näher an den Tisch heran. »Er ist der größte…«

»Größe ist eine Selbsttäuschung der Sündhaften. Alle Menschen sind gleich, sie sind von Natur aus böse und müssen daher alles daransetzen, ihre minderwertige Natur zu überwinden, indem sie ihr Leben selbstlos in den Dienst der guten Sache stellen und ihren Mitmenschen helfen. Allein völlige Selbstlosigkeit befähigt den Menschen, sich den Lohn im Leben nach dem Tode zu verdienen.«

Mr. Cascella ballte die Fäuste und war bereits im Begriff, sich vorzubeugen. Wenn er jetzt, in diesem Augenblick, widersprach, wäre ihre Sache unrettbar verloren. Nicci verpasste ihm einen kräftigen Tritt mit der Seite ihres Fußes, in der Hoffnung, ihn zu überzeugen, den Mund zu halten und das Reden ihr zu überlassen, bevor alles zu spät war. Gesenkten Hauptes trat Nicci einen Schritt zurück, womit sie den Schmied zwang, beiseite zu treten, ohne dass es allzu offensichtlich aussah.

»Ihr seid weise, Protektor Muksin. Wir können Wertvolles von Euch lernen. Bitte verzeiht die unziemlichen Worte einer bedauernswerten Gemahlin. Ich bin eine einfache Frau, erfüllt von Demut und verwirrt in Gegenwart eines Vertreters der Bruderschaft des Ordens.«

Verdutzt enthielt sich der Protektor einer Antwort. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte Nicci sich derartiger Formulierungen bedient und war sich ihrer Nützlichkeit bewusst. Sie hatte diesem Mann, der nicht mehr war als ein kleiner Beamter, einen Rang im Zentrum des Ordens – in der eigentlichen Bruderschaft – zugestanden, den er niemals würde erlangen können. Er war genau jene Sorte Mann, die danach strebte, sich mit gesellschaftlichen Verdiensten zu schmücken. Ihm einen solchen intellektuellen Rang zuzuschreiben, das war für einen Mann wie ihn dasselbe, wie ihn tatsächlich zu erlangen; der äußere Schein war für diese Männer Wirklichkeit. Der äußere Schein war es, der zählte, nicht die tatsächliche Leistung. »Und worin besteht nun das Können dieses Mannes?«

Nicci neigte abermals ihr Haupt. »Richard Cypher ist ein noch unbekannter Bildhauer, Protektor Muksin.«

Die beiden Männer rechts und links von ihr machten ein ungläubiges Gesicht.

»Ein Bildhauer?«, wiederholte der Protektor, in Gedanken bei dem Wort verweilend.

»Ein namenloser Künstler, der nur eine einzige Hoffnung im Leben hegt: Er möchte eines Tages mit Stein arbeiten können, um die Schlechtigkeit der Menschen aufzuzeigen und ihnen auf diese Weise vielleicht zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass sie anderen und dem Orden Opfer bringen müssen; dadurch hofft er, sich seinen Lohn im Leben nach dem Tode zu verdienen.«

Der Schmied hatte sich rasch erholt und setzte noch eins drauf: »Wie Ihr vielleicht wisst, waren viele der Bildhauer am Ruhesitz Verräter – dem Schöpfer sei Dank hat man sie entdeckt –, daher ist noch viel zum Ruhme des Ordens in Stein zu meißeln. Das kann Euch Bruder Narev bestätigen, Protektor Muksin.«

Der Protektor betrachtete die drei nacheinander aus seinen dunklen Augen. »Wie viel Geld habt Ihr dabei?«

»Zweiundzwanzig Goldtaler«, antwortete Nicci.

Er runzelte tadelnd die Stirn, während er das Hauptbuch heranzog und seine Feder in ein aus Stein geschliffenes Tintenfass tauchte. Der Protektor beugte sich vor und trug die Strafe in sein Buch ein. Als Nächstes notierte er eine Anweisung auf ein Stück Papier, das er dem Schmied reichte.

»Bringt dies zum Versammlungssaal der Arbeiter bei den Docks« – er deutete mit seiner Tintenfeder hinter sie –, »diese Straße hinunter. Ich werde den Gefangenen freilassen, sobald Ihr mir ein Siegel des Arbeiterkollektivs vorlegt, welches beweist, dass die Strafe an jene Personen ausbezahlt wurde, denen das Geld am ehesten zusteht – den Bedürftigen. Richard Cypher muss seines gesamten unrechtmäßig erworbenen Besitzes entledigt werden.«

Richard war es, dem es am ehesten zustand, fand Nicci voller Bitterkeit. Er hatte es verdient, nicht diese anderen Kerle. Nicci musste an all die Nächte denken, die er ohne Schlaf und ohne etwas zu essen durchgearbeitet hatte. Sie erinnerte sich, wie er stöhnend zu Bett gegangen war, weil ihm der Rücken von der Plackerei schmerzte. Richard hatte dieses Geld verdient – das war ihr jetzt klar geworden. Die Männer, die es jetzt bekommen würden, hatten nichts dafür getan, außer es zu begehren und daraus ihr Recht abzuleiten.