»Sehr wohl, Protektor Muksin«, erwiderte Nicci und verbeugte sich. »Ich danke Euch für Euren weisen Entschluss.«
Mr. Cascella stieß einen leisen Seufzer aus, derweil Nicci sich noch einmal vertraulich an den Protektor wandte.
»Wir werden Eure gerechten Anweisungen umgehend ausführen.« Sie setzte ein unterwürfiges Lächeln auf. »Dürfte ich Euch, da Ihr uns in dieser Angelegenheit so wohlwollend behandelt habt, um eine weitere unbedeutende Gefälligkeit bitten?« Es war eine Menge Gold, die man ihm für seine Bemühungen zugunsten des Ordens gutschreiben würde; sie wusste, dass er in diesem Augenblick großzügiger Laune sein würde. »Im Grunde frage ich mehr aus Neugier.«
Ihm entfuhr ein genervtes Stöhnen. »Was wollt Ihr wissen?«
Nicci beugte sich noch näher zu ihm, so nahe, dass sie seinen schalen Schweiß riechen konnte. »Den Namen der Person, die meinen Ehemann angezeigt hat; den Namen dessen, der Richard vor den Richter gebracht hat.«
Nicci wusste, im Augenblick ging ihm nur ein Gedanke durch den Kopf: dass Männer eher in die Bruderschaft aufgenommen wurden, wenn sie halfen, große Summen für die Bedürftigen einzutreiben. Die Frage des Namens wäre nicht mehr als eine lästige Mücke, die ihn in seinen wohligen Gedanken störte. Er zog einige Papiere heran, die er überflog und nach der Durchsicht hektisch beiseite legte.
»Hier steht es«, verkündete Protektor Muksin schließlich. »Richard Cypher wurde von einem jungen Soldaten angezeigt, der sich freiwillig zur Armee der Imperialen Ordnung gemeldet hat. Sein Name lautet Gadi. Der Bericht ist einige Monate alt; es hat eine Weile gedauert, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, doch am Ende ist der Orden darin stets erfolgreich. Aus diesem Grunde nennen wir unseren Großen Kaiser auch ›Jagang den Gerechten‹.«
Nicci richtete sich auf. »Ich danke Euch, Protektor Muksin.«
Ihr ruhiges Gesicht ließ ihre innere Aufgewühltheit darüber, dass dieser kleine Schurke für sie unerreichbar war, nicht erahnen. Gadi hatte es verdient, zu leiden.
Während der Protektor seine Strafe für einen Verstoß gegen das Zivilrecht notierte, erklärte er: »Bringt den Strafbefehl, den ich Euch gegeben habe, zum Arbeiterkollektiv bei den Docks, und kehrt hierher zurück, sobald Ihr im Besitz der Siegel seid, die nachweisen, dass seine Strafe von zweiundzwanzig Goldtalern voll entrichtet wurde.
Des Weiteren erhält Richard Cypher die Auflage, sich beim Kollektiv der Bildhauer zu melden, wo man ihm eine Aufgabe zuteilen wird.« Er überreichte ihr das Schreiben mit den Anweisungen. »Ab sofort ist Richard Cypher Bildhauer des Ordens.«
Die Sonne war bereits im Begriff unterzugehen, als sie mit sämtlichen Dokumenten und Siegeln wiederkamen. Die Art, wie Nicci nach dem Scheitern des Bestechungsversuchs mit den Goldmünzen mit dem Beamten umgesprungen war, hatte den Schmied sichtlich beeindruckt. Ishaq wurde nicht müde, ihr zu danken. Für sie zählte nur, dass man Richard freilassen würde.
Sie war erleichtert, dass sie sich getäuscht hatte und Richard schließlich doch kein Betrüger und Dieb war.
Mr. Cascella, Ishaq und Nicci warteten vor dem Seiteneingang der Festung. Die Schatten wurden dunkler; schließlich öffnete sich die Tür. Zwei Gardisten traten, Richard zwischen sich, heraus auf den Treppenabsatz. Als die drei Richard erblickten, als sie sahen, in welchem Zustand er sich befand, entfuhr Mr. Cascella ein leiser Fluch; Ishaq sprach ein stilles Gebet.
Die Gardisten ließen Richard los und versetzten ihm einen Stoß, sodass er nach vorn stolperte. Ishaq und der Schmied eilten zur Treppe, um ihn zu stützen.
Richard fing sich und richtete sich auf, eine dunkle, aufrechte Gestalt im letzten Tageslicht, die den langen Schatten ringsum trotzte. Mit ausgestreckter Hand befahl er den beiden Männern, zu bleiben, wo sie waren. Die beiden verharrten, einen Fuß auf der untersten Stufe, trotz allem bereit, ihm zu Hilfe zu eilen, sollte er sie brauchen. Nicci vermochte sich nicht vorzustellen, welche Schmerzen es Richard bereiten musste, so sicher, aufrecht und elegant die Stufen hinunterzusteigen, ganz ohne Hilfe, so als wäre er ein freier Mann.
Noch wusste er nicht, was sie ihm angetan hatte.
Nicci war sich darüber im Klaren, dass sie Richard in keine schlimmere Lage hätte bringen können. Selbst die Foltern in den Tiefen der Festung waren nicht so furchtbar wie jene Strafe, zu der sie ihn soeben verurteilt hatte.
Sie war überzeugt, dadurch endlich jene Antwort erzwingen zu können, die sie suchte – sofern es tatsächlich eine Antwort zu finden gab.
57
Bruder Narev blieb hinter Richards Schulter stehen, ein Geist, gekommen, um ihn heimzusuchen. Er trieb sich häufiger ganz in der Nähe herum, um sich zu vergewissern, dass es mit den Bildhauerarbeiten seinen Anweisungen gemäß voranging. Dies war das erste Mal, dass der große Mann persönlich bei Richard Halt machte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.
»Kenne ich dich nicht?« Die Stimme erinnerte an das mahlende Geräusch von Stein auf Stein.
Richard ließ den Arm sinken, mit dem er den Hammer hielt, und sah auf. Mit seiner Linken, in der er noch immer den gespleißten Meißel hatte, wischte er sich den staubigen Schweiß von der Stirn.
»Aber ja, Bruder Narev. Damals habe ich beim Eisentransport gearbeitet. Eines Tages brachte ich dem Schmied eine Fuhre, und da hatte ich die Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen.«
Bruder Narev runzelte misstrauisch die Stirn. Richard gestattete sich nicht den geringsten Riss in seiner Fassade unbekümmerter Gelassenheit.
»Erst einfacher Arbeiter und jetzt Bildhauer?«
»Ich besitze Fähigkeiten, die ich mit Freude in den Dienst meiner Mitmenschen stelle. Ich bin überaus dankbar, dass mir der Orden die Gelegenheit gibt, mir durch dieses Opfer meinen Lohn im Leben nach dem Tode zu verdienen.«
»Mit Freude.« Neal, der Schatten des Geistes, trat vor. »Es erfüllt dich mit Freude, als Bildhauer zu arbeiten, ja?«
»Ganz recht, Bruder Neal.«
Dass Kahlan lebte, erfüllte ihn mit Freude; alles andere kümmerte ihn nicht. Er war ein Gefangener, und was er tun musste, um Kahlans Leben zu erhalten, würde er tun, mehr nicht. Richards unterwürfige Haltung veranlasste Bruder Neal zu einem überlegenen Feixen. Der Mann erschien des Öfteren, um den Bildhauern Vorträge zu halten, und Richard hatte den Mann nur zu gut kennen gelernt. Da die Arbeit der Bildhauer das überaus einflussreiche Gesicht war, das der Palast den Menschen präsentieren würde, war sie für die Bruderschaft des Ordens von entscheidender Bedeutung. Richard war schon häufiger zum Ziel der leidenschaftlichen Ansprachen Neals geworden. Neal, ein Zauberer und kein Hexenmeister wie Bruder Narev, schien das stete Bedürfnis zu verspüren, in Richards Nähe seine moralische Autorität unter Beweis zu stellen. Richard bot ihm keinen Angriffspunkt, trotzdem fuhr Neal unbeirrt damit fort, mit allen Mitteln danach zu suchen.
Bruder Narev war bis zur Verbohrtheit von seinen Worten überzeugt: die Menschheit war schlecht; nur wer seinen Mitmenschen selbstlos Opfer brachte, konnte je auf Erlösung nach dem Tode hoffen. Dieser Glaube hatte nichts Freudiges, sondern unbarmherzige Pflichterfüllung zum Inhalt.
Neal dagegen schäumte geradezu über vor Empfindsamkeit. Er glaubte mit einem Gefühl leidenschaftlichen, glühenden, fast schon arroganten Stolzes an die Lehren des Ordens und war von der freudigen Überzeugung erfüllt, die Welt bedürfe einer eisenharten Führung, zu der nur Intellektuelle seines Schlages fähig waren – selbstverständlich in widerwilliger Hochachtung vor Bruder Narev.
Mehr als einmal hatte Richard mitgehört, wie Neal im Brustton der Überzeugung verkündete, wenn er Befehl geben müsste, einer Million Unschuldiger die Zunge herauszuschneiden, so sei dies allemal besser, als einem Einzigen zu erlauben, wider die selbstverständliche Redlichkeit der Methoden des Ordens zu lästern.
Bruder Neal, ein junger Mann mit jugendlich unverbrauchtem Gesicht – was aber in Anbetracht von Niccis Bemerkung, er habe früher im Palast der Propheten gelebt, zweifellos eine Täuschung war – begleitete Bruder Narev oft und sonnte sich in der Gunst seines Mentors. Neal war Bruder Narevs Erster Stellvertreter. Sein Gesicht mochte jugendlich und unverbraucht sein, seine Gedanken waren es nicht. Tyrannei gab es schon seit Menschengedenken, auch wenn Neal der Selbsttäuschung erlegen war, darin, vorausgesetzt, er und seine Kumpane bedienten sich ihrer, die strahlend neue Errettung der Menschheit zu sehen. Seine Vorstellungen waren wie eine Geliebte, der er sich mit grenzenloser, blinder Leidenschaft in die Arme warf – eine Wahrheit, die sich einzig der Lust des Liebenden offenbarte.