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Nichts erregte schneller seinen Zorn als der leiseste Anflug von Diskussion und Widerspruch, ganz gleich wie wohl begründet. In der Hitze seiner Leidenschaft war Neal absolut bereit, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken, jeden Widerstand auszumerzen und jede beliebige Zahl von Menschen umzubringen, die es versäumten, das Haupt vor dem Podest zu neigen, auf das er seine unwiderlegbaren, großmütigen Ideale gehoben hatte.

Kein Elend, kein Versagen, kein noch so großes Ausmaß an Wehklagen, Seelenpein und Tod vermochte seine glühende Überzeugung abzuschwächen, die Methoden des Ordens seien für die Menschheit der einzig richtige Weg.

Die übrigen Jünger, die wie Neal sämtlich braune Kapuzengewänder trugen, waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus grausamen, aufgeblasenen Idealisten, bis zur Verbitterung Habgierigen, Rachsüchtigen, Neidischen, Gehässigen, Ängstlichen und vor allem aus gefährlich Verblendeten. Ihnen allen war ein ätzender, tief empfundener Ekel vor der Menschheit eigen, der in der Überzeugung gipfelte, dass alles für die Menschen Erfreuliche ausschließlich böse und demzufolge nur die Selbstaufopferung gut sein konnte.

Sie alle waren, mit Ausnahme Neals, blinde Gefolgsleute, die völlig unter dem Bann Bruder Narevs standen. Überzeugt, dass Bruder Narev dem Schöpfer näher stand als den Menschen, klammerten sie sich an jedes seiner Worte in dem festen Glauben, es sei göttlicher Eingebung entsprungen. Würde er von ihnen verlangen, sie müssten sich alle für ihre Sache selbst entleiben, sie würden sich, da war Richard sicher, ein Bein ausreißen, um das nächstbeste Messer in die Finger zu bekommen.

Neal bildete insofern eine Ausnahme, als er nicht nur die Worte Bruder Narevs, sondern auch seine eigenen für gottgegeben hielt. Jeder Führer brauchte einen Nachfolger. Richard war ziemlich sicher, dass Neal bereits entschieden hatte, wer als nächste Wiedergeburt des Ordens am besten geeignet war.

»Eine eigentümliche Wortwahl, ›mit Freude‹.« Bruder Narev deutete mit einer kreisenden Bewegung seines knotigen Fingers auf die geduckten, missgestalteten und verängstigten Figuren, an denen Richard gerade arbeitete. »Dies erfüllt dich mit … Freude?«

Richard deutete auf den Lichtstrahl, den er soeben gemeißelt hatte, damit er auf die bedauernswerten Gestalten herniederscheine. »Das, Bruder Narev, ist es, was mich mit Freude erfüllt – dass ich im Stande bin, zu zeigen, wie die Menschen vor der Vollkommenheit des Lichtes des Schöpfers niederkauern. Es erfüllt mich mit Freude, allen die Sündhaftigkeit der Menschen vor Augen zu führen, denn nur so werden sie erkennen, dass ihre allererste Pflicht dem Orden gilt.«

Bruder Narev entfuhr tief in seiner Kehle ein Laut des Misstrauens. Das Sonnenlicht ließ die Schattenringe um seine Augen noch düsterer als sonst erscheinen, und selbst die Falten rings um seinen Mund wirkten tiefer, als er Richard mit einem Blick musterte, in dem sich, durchsetzt von einem Hauch Besorgnis, Argwohn und Angewidertsein die Waage hielten. Nur die Besorgnis unterschied ihn von dem Blick, mit dem er alle anderen bedachte. Richard zeigte ihm ein völlig ausdrucksloses, unverfängliches Gesicht. Schließlich verzog sich Bruder Narevs Mund, als er seine stillen Überlegungen abtat.

»Da gebe ich dir Recht … deinen Namen habe ich vergessen. Aber Namen sind unwichtig, Menschen sind unwichtig. Für sich betrachtet, ist jeder Mensch nichts weiter als ein bedeutungsloses Rädchen im großen Gefüge der Menschheit. Wichtig ist, wie gut dieses Gefüge ineinander greift, nicht die einzelnen Räder.«

»Richard Cypher.«

Eine verfilzte Braue aus schwarzen und weißen Haaren wurde hochgezogen.

»Richtig … Richard Cypher. Nun, deine Bildhauerei findet meine Zustimmung, Richard Cypher. Du scheinst eine klarere Vorstellung als die meisten anderen davon zu haben, wie der Mensch korrekt dargestellt werden muss.«

Richard verneigte sich. »Dies ist nicht das Werk meiner Hand, sondern das des Schöpfers, der sie führt, auf dass sie dazu beiträgt, dass der Orden den Weg weisen kann.«

Der argwöhnische Blick kehrte zurück, doch schließlich bewog Richards Gesichtsausdruck Bruder Narev, ihm seine Worte abzunehmen. Bruder Narev, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, entfernte sich mit leisen Schritten, um anderen Dingen nachzugehen. Einem Kind gleich, das sich an die Rockschöße seiner Mutter klammert, beeilte sich Neal, in der Nähe von Bruder Narevs Gewand zu bleiben. Er warf einen finsteren Blick über seine Schulter. Fast erwartete Richard, dass er ihm die Zunge rausstreckte.

Nach Richards Schätzung gab es etwa fünfzig dieser braun gewandeten Jünger. Er lief ihnen oft genug über den Weg, um ihre Eigenarten mittlerweile zu kennen. Victor hatte Richard gegenüber erwähnt, eine der Gießereien habe nach der vom Schmied angefertigten Musterform nahezu die gleiche Anzahl von Bannformen in Gold gegossen. Victor hielt sie lediglich für Zierrat. Richard hatte beobachtet, wie mehrere dieser goldenen Bannformen auf gewaltigen verzierten Steinsäulen montiert wurden, die über das gesamte Gelände des Ruhesitzes verteilt standen. Man hatte die Säulen aus poliertem Marmor so entworfen und platziert, als ob sie den prachtvollen Zierrat eines großartigen Gebäudes darstellen sollten. Richard vermutete jedoch, dass sie mehr als das waren.

Richard ging wieder daran, ein unförmiges, starres Glied herauszumeißeln. Wenigstens konnte er jetzt seine eigenen Glieder wieder benutzen. Es hatte eine Weile gedauert, aber jetzt war er genesen; allerdings schien ihm das eine kaum geringere Tortur zu sein.

Jeden Tag versammelten sich Menschen, um die flachen Steinreliefs zu begutachten, die bereits auf dem oberen Mauerfries zu sehen waren. Manche knieten vor den Bilderszenen auf den gepflasterten Gehwegen nieder und beteten, bis ihre Knie blutig waren. Andere brachten Lumpen mit, die sie sich beim Beten unter die Knie legten. Viele starrten einfach mit verlorenen Blicken auf die in Stein gehauene Natur des Menschen.

Richard konnte vielen Besuchern im Gesicht ansehen, dass sie mit einem vagen, nicht näher zu beschreibenden Gefühl der Hoffnung hergekommen waren und es sie nach einer absoluten Antwort auf eine Frage dürstete, die sie nicht zu formulieren vermochten. Ihre leeren Blicke, wenn sie wieder gingen, waren herzzerreißend. Es waren Menschen, denen man ebenso alle Lebendigkeit genommen hatte wie denen, die in den Verliesen des Ordens verbluteten.

Einige dieser Menschen scharten sich um die Bildhauer, um ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. In den zwei Monaten, die Richard jetzt als Bildhauer auf dem Ruhesitz arbeitete, hatte er nach und nach die Feinheiten seines Handwerks zu unterscheiden gelernt. Was er in den Stein meißelte, war entmutigend, doch der Vorgang des Bildhauerns selbst glich dies teilweise wieder aus. Richard schwelgte in den technischen Aspekten des von einer bestimmten Absicht gelenkten Bearbeitens von Stein mit Stahl.

So sehr er die Dinge verabscheute, die er bildhauern musste, das Bearbeiten von Stein mit einem Meißel hatte er lieb gewonnen. Fast war es, als ob der Marmor unter seinen Händen zum Leben erwachte. Oft arbeitete er ein winziges Detail mit einer dem Thema angemessenen Ehrfurcht heraus – einen elegant erhobenen Finger, ein Auge mit wissendem Blick, eine Brust, hinter der sich ein rechtschaffenes Herz verbarg.

War diese Anmut erreicht, machte er sie wieder zunichte, um den Anforderungen des Ordens gerecht zu werden. Meistens waren es diese Momente, in denen die Menschen in Tränen ausbrachen.