Es gab eine Menge rechtschaffener, freundlicher Menschen in der Alten Welt. Richard hatte in ihnen immer nur den Feind gesehen, und jetzt war er mit einer ganzen Reihe von ihnen befreundet. So war es ihm schon oft ergangen, und stets auf die gleiche Weise; wenn man sie erst einmal näher kennen gelernt hatte, ähnelten sich die Menschen im Großen und Ganzen überall.
Es gab solche, die die Freiheit liebten und sich lautstark dafür einsetzten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich anzustrengen, voranzukommen und etwas zu erreichen, und dann gab es andere, die ganz versessen darauf schienen, sich der geistlosen Gleichmacherei des Stillstands hinzugeben, die man erzwang, indem man eine aufgesetzte, willkürliche und graue Uniformität durchsetzte – die einen wollten aus eigener Kraft aus der Menge herausragen, die anderen wollten, dass man ihnen das Denken abnahm, und dafür waren sie bereit, den höchsten Preis zu zahlen.
Kamil und Nabbi empfingen Richard mit grinsendem Gesicht, als er die Treppe heraufkam.
»Nabbi und ich haben an unserer Schnitzerei gearbeitet, Richard. Kommst du und siehst sie dir an?«
Lächelnd legte Richard Kamil einen Arm um die Schultern.
»Selbstverständlich. Dann lasst mal sehen, was ihr heute gemacht habt.«
Richard folgte ihnen durch den sauberen Hausflur nach draußen hinters Haus, wo Kamil und Nabbi Gesichter in einen alten Holzklotz geschnitzt hatten. Die Schnitzereien waren grauenhaft.
»Na ja, Kamil, das sieht schon ganz ordentlich aus. Deine auch, Nabbi.«
Die Gesichter in den Schnitzereien lächelten; und das allein war für Richard von unschätzbarem Wert. So unvollkommen sie auch ausgeführt waren, sie wirkten lebendiger als alles, was Richard tagein, tagaus Meisterbildhauer in kostbaren Marmor meißeln sah.
»Wirklich, Richard?«, wollte Nabbi wissen. »Glaubst du, Kamil und ich könnten Bildhauer werden?«
»Eines Tages vielleicht. Ihr braucht mehr Übung und müsst noch sehr viel lernen – aber alle Bildhauer brauchen praktische Erfahrung, wenn sie es zur Meisterschaft bringen wollen. Hier, seht euch diese hier an, zum Beispiel. Was fällt euch dazu ein? Was stimmt damit nicht?«
Die Arme verschränkt und die Stirn in Falten gezogen, betrachtete Kamil konzentriert das Gesicht, das er geschnitzt hatte. »Ich weiß nicht.«
»Nabbi?«
Nabbi zog verlegen die Schultern hoch. »Es sieht nicht wie ein richtiges Gesicht aus. Aber warum, kann ich nicht sagen.«
»Seht euch mein Gesicht an, meine Augen. Was ist dort anders?«
»Na ja, ich glaube, deine Augen haben eine etwas andere Form«, antwortete Kamil.
»Und sie stehen enger beieinander – nicht so sehr seitlich am Kopf«, fügte Nabbi hinzu.
»Sehr gut.« Richard glättete ein Stück des Bodens, dort, wo man die Karotten geerntet hatte, und formte das feuchte Erdreich dann zu einem kleinen Haufen. »Seht ihr, hier. Wenn man die Augen näher beieinander setzt, so, dann sieht es eher aus wie ein wirkliches Gesicht.«
Nickend betrachteten die beiden jungen Burschen sein Werk.
»Verstehe«, meinte Kamil. »Ich fange gleich ein neues an; und diesmal werde ich es besser machen.«
Richard gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »So ist es recht.«
»Vielleicht können wir eines Tages auch Bildhauer werden«, fing Nabbi noch einmal an.
»Vielleicht«, war alles, was Richard darauf erwiderte.
Nicci hatte das Abendessen fertig; auf dem Tisch wartete es bereits auf ihn. Unmittelbar neben der brennenden Lampe stand eine Schale mit Suppe, der Rest des Zimmers versank in abendlicher Dunkelheit. Nicci saß am Tisch und wartete ebenfalls.
»Wie war das Bildhauern heute?«, erkundigte sie sich, als Richard an die Waschschüssel trat, um sich den Schmutz von den Händen zu waschen.
Er spritzte sich das Seifenwasser ins Gesicht und spülte den Gesteinsstaub herunter.
»Bildhauern ist Bildhauern.«
Nicci fuhr mit dem Daumen über den Lampenfuß.
»Wirst du es durchstehen?«
Richard wischte sich die Hände ab. »Was bleibt mir anderes übrig? Entweder ich stehe es durch, oder ich kann mit allem Schluss machen. Was für eine Wahl ist das? Oder möchtest du wissen, ob ich schon so weit bin, mich selbst umzubringen?«
Sie hob den Blick. »Das habe ich nicht gemeint.«
Er warf das Handtuch neben die Waschschüssel. »Außerdem, wie könnte ich für eine Stelle, die du mir besorgt hast, nicht dankbar sein?«
Niccis blaue Augen senkten sich wieder auf den Tisch. »Victor hat es dir erzählt?«
»Es war nicht übermäßig schwer, dahinter zu kommen. Victor meinte bloß, du seist wunderschön und hättest mir das Leben gerettet.«
»Ich hatte keine andere Wahl, Richard. Sie wollten dich nur freilassen, sofern du über eine Fertigkeit verfügst. Ich musste es ihnen sagen.«
Mehr als an den meisten anderen Tagen spürte er, worum es bei ihrer Verbindung, dem Spiel, das sie beide spielten, wirklich ging. Sie fühlte sich hinter ihrem Schutzschild des ›Ich musste es ihnen sagen‹ sicher. Und doch erlaubte es ihr, ihn zu beobachten und zu sehen, wie er reagierte.
Die Mühen des Tages, das Herumschleppen der schweren Steinquader und das ständige Heben des Hammers hatten an seinen Kräften gezehrt. Ihm kribbelten die Hände von den Nachwirkungen der klirrenden Schläge. Und jetzt hatte er auch noch einen Streit mit Nicci vom Zaun gebrochen. Als die Erschöpfung ihn übermannte, ließ er sich auf sein Strohlager fallen.
Ermattung war eine Begleiterscheinung jedes Kampfes. So deutlich er sie spürte, wann immer er eine Klinge in Händen hielt, so spürte er sie auch jetzt, in diesem Tanz um Leben und Tod. Dieser war nicht weniger ein Kampf als all die anderen, die Richard ausgefochten hatte. Nicci stand gegen die Freiheit und das Leben selbst. Dies war ein Tanz mit dem Tod. »Eins würde mich interessieren, Nicci.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Und das wäre?«
»Kannst du mir sagen, ob Kahlan noch lebt?«
»Selbstverständlich. Ich spüre ständig die Verbindung mit ihr.«
Nicci lächelte auf die beschwichtigende Weise, die ihr eigen war. »Kahlan geht es ausgezeichnet, Richard. Das braucht dich nicht zu belasten.«
Richard schaute Nicci eine Weile unverwandt an. Schließlich löste er seinen Blick von ihr und ließ sich auf seine Gefängnispritsche nieder. Er wälzte sich herum und kehrte Nicci und dem Tanz mit dem Tod den Rücken zu.
»Richard … ich habe Suppe gekocht. Komm und iss.«
»Ich habe keinen Hunger.«
Er verbannte sie aus seinen Gedanken, und noch während er versuchte, sich Kahlans grüne Augen in Erinnerung zu rufen, übermannte ihn die Müdigkeit.
58
Richard konnte Neals Atem im Nacken spüren. Der junge Ordensbruder schaute Richard über die Schulter, während er mit leichten, rhythmischen Schlägen den Kopf des Meißels bearbeitete, um den weit aufgerissenen Mund eines gequält aufschreienden Sünders zu modellieren, dessen Leib soeben vom Hüter der Unterwelt in Stücke gerissen wurde.
»Das ist ziemlich gut«, murmelte Neal, übermannt von der Freude über das, was er sah.
Sich mit seiner Meißelhand auf dem Steinquader abstützend, stemmte Richard sich hoch. »Danke, Bruder Neal.«
Neal starrte ihn hochmütig und herausfordernd aus seinen braunen Augen an, die von derselben Farbe waren wie sein graubraunes, freudloses Gewand. Richard tat nichts, um diese Provokation zu erwidern.
»Du weißt, dass ich dich nicht mag, Richard.«
»Niemand ist es wert, gemocht zu werden, Bruder Neal.«
»Du weißt auf alles eine Antwort, was, Richard?« Daraufhin lächelte der junge Zauberer, langte unter seine Kapuze und kratzte sich sein kurz geschorenes graubraunes Haar. »Weißt du, warum du diese Arbeit bekommen hast?«
»Weil mir der Orden Gelegenheit geben wollte, dazu beizutragen…«
»Nein, nein«, unterbrach Neal, plötzlich voller Ungeduld. »Ich meinte, ob du weißt, weshalb die Stelle überhaupt frei war? Weißt du, warum wir Bildhauer benötigten, wodurch sich dir die ausgezeichnete Möglichkeit auf eine Anstellung bot?«