Erstaunt sah sie ihm nach, wie er zur Arbeit eilte.
Sie konnte kaum glauben, dass es ihm irgendwie gelungen war, dem Tod ein weiteres Mal zu entgehen. Nicci wusste nicht mehr, wann sie zuletzt so dankbar über irgendetwas gewesen war.
Richard traf bei der Schmiedewerkstatt ein, kurz nachdem Victor aufgeschlossen hatte; seine Arbeiter waren noch nicht da. Victor war nicht überrascht, ihn zu sehen, denn Richard erschien des Öfteren sehr früh, und gewöhnlich setzten sich die beiden dann hin und sahen sich den Sonnenaufgang über der Baustelle an.
»Richard! Freut mich, dich zu sehen.«
»Mich auch, Victor. Ich muss mit dir reden.«
Er gab ein mürrisches Brummen von sich. »Über die Statue?«
»Ja, genau«, antwortete Richard leicht verblüfft. »Über die Statue. Du weißt es schon?«
Gefolgt von Richard schlängelte sich Victor durch die dunkle Werkstatt, durch ein wüstes Chaos aus Werkbänken, Werkstücken und Werkzeugen. »O ja, ich habe davon gehört.« Gelegentlich blieb er unterwegs stehen und bückte sich, um hier einen Hammer, dort einen Eisenbarren aufzuheben und sie auf einen Tisch zu legen oder in einem Behälter zu verstauen, so als könnte man Ordnung in eine Landschaft bringen, indem man hier ein paar Kieselsteine umarrangierte und dort einen toten Ast aufsammelte.
»Und was hast du gehört?«
»Gestern Abend war Bruder Narev bei mir. Er teilte mir mit, dass eine offizielle Weihung des Ruhesitzes stattfinden wird, um unserem Schöpfer unsere Ehrerbietung zu bezeugen für all die Dinge, mit denen er uns beschenkt.« Als er an seinem riesigen Quader aus Cavaturamarmor vorüberkam, schaute er kurz über seine Schulter. »Er erklärte mir, dass du eine Statue für den Vorplatz schaffen sollst – eine monumentale Statue. Er sagte, sie sei für die Weihungsfeier bestimmt.
Nach allem, was ich so von den Leuten höre, von Ishaq und auch von anderen, schreibt der Orden den Aufstand der übergroßen Belastung zu, die die gleichzeitige Durchführung eines so gewaltigen Bauvorhabens wie dem Palast und das Führen eines Krieges mit sich bringen. Ganze Heerscharen von Arbeitern sind mit dem Bau beschäftigt – nicht nur hier, sondern auch überall in den Steinbrüchen, in den Gold- und Silberminen sowie in den Wäldern, wo das Bauholz geschlagen wird. Doch selbst Sklaven müssen mit Nahrung versorgt werden. Die Säuberungsaktionen unter den Beamten, Führungskadern und gelernten Arbeitern im Anschluss an den Aufstand waren überaus umfassend. Ich glaube, Bruder Narev möchte mit der Weihungszeremonie dem Volk vor Augen führen, dass es vorangeht, und ihm neuen Mut machen, darüber hinaus möchte er die abseits gelegenen Länder in die Feierlichkeiten einbeziehen, weil er glaubt, damit zukünftigen Schwierigkeiten zuvorkommen zu können.«
Nur das in der hohen Decke eingelassene Oberlicht ließ in das Dunkel des Raumes Licht hinein, das sich über den Steinquader ergoss. Der Marmor schien das Licht tief in seine feine kristalline Struktur zu saugen und es als ein Geschenk der Liebe zurückzugeben.
Victor öffnete die Doppeltür, von der aus man den gesamten Ruhesitz überblicken konnte. »Bruder Narev erklärte mir, dass deine Statue gleichzeitig als Sonnenuhr dienen soll, wobei das Licht des Schöpfers auf die Qualen der Menschheit herniederscheint. Er erklärte mir, ich soll die Herstellung des Sonnenuhrzeigers und des Zifferblatts überwachen, auf das der Schatten fällt. Er erwähnte etwas von einem Blitz…«
Victor wandte sich um und verfolgte mit dem Blick, wie Richard das Modell der Statue auf einem schmalen Werkzeugbord abstellte, das den Raum der Länge nach durchlief.
»Gütige Seelen…«, entfuhr es Victor leise. »Das ist doch lächerlich.«
»Man will, dass ich das hier in Stein haue. Die Statue soll eine so starke Ausstrahlung haben, dass sie in der Lage ist, den Haupteingang zu beherrschen.«
Victor nickte. »Bruder Narev erwähnte etwas in der Art. Er erklärte mir, wie groß das Metallstück für das Zifferblatt werden würde. Er hätte es gerne in Bronze.«
»Kannst du Bronze gießen?«
»Nein.« Victor tippte Richard mit dem Fingerrücken an. »Und jetzt kommt das Beste: Überhaupt nur wenige können ein solches Werkstück gießen. Bruder Narev hat Priskas Freilassung angeordnet, damit er das Gießen übernimmt.«
Richard blinzelte erstaunt. »Priska lebt?«
Victor nickte. »Offenbar wollte man an hoher Stelle nicht, dass er im Himmel begraben wird, weil man auf seine Fachkenntnisse angewiesen ist. Im Orden weiß man ganz genau, dass man auf die Leute mit handwerklichen Fertigkeiten angewiesen ist, deswegen hat man ihn für diesen Auftrag auf freien Fuß gesetzt. Wenn er am Leben bleiben und das Verlies verlassen will, muss er die Bronze gießen, und zwar auf eigene Kosten, als Geschenk an das Volk. Es heißt, das sei seine Buße. Ich soll ihm einen Plan mit genauen Angaben erstellen, mich um ihren Zusammenbau sowie die Montage an der Statue kümmern.«
»Victor, ich möchte deinen Stein kaufen.«
Der Schmied legte missbilligend die Stirn in Falten.
»Kommt nicht in Frage.«
»Narev und Neal haben von meiner Geldstrafe erfahren und sind der Meinung, ich sei zu billig davongekommen. Sie haben verfügt, ich soll als Buße ihre Statue bildhauern – ganz so, wie Priska den Bronzeguss liefern soll. Ich muss den Stein aus eigener Tasche bezahlen und ihn nach meiner täglichen Arbeit auf der Baustelle bearbeiten. Sie wollen ihn für die Weihung des Ruhesitzes in diesem Winter.«
Victors Blick schwenkte zu dem Modell auf dem Regal hinüber, so als wäre es ein Ungeheuer, das ihn in den Untergang treiben wollte. »Du weißt, was mir dieser Stein bedeutet, Richard. Ich werde niemals zulassen…«
»Victor, hör mir zu.«
»Nein.« Er hob abwehrend eine Hand. »Das kannst du unmöglich von mir verlangen. Ich möchte nicht, dass dieser Stein so hässlich wird wie alles, was der Orden anfasst. Das lasse ich nicht zu.«
»Ich ebenso wenig.«
Victor deutete verärgert gestikulierend auf das Modell. »Das sollst du in Stein meißeln. Wie kannst du auch nur mit dem Gedanken spielen, meinen jungfräulichen Marmor mit dieser Hässlichkeit zu strafen?«
»Aber das tue ich doch gar nicht.«
Richard stellte das Gipsmodell auf den Fußboden, schnappte sich einen großen Hammer, der mit dem Stiel an der Wand lehnte, und zertrümmerte die Scheußlichkeit mit einem wuchtigen Hieb in tausend Stücke. Der weiße Staub wallte, gleichsam ein Geist des Bösen auf seiner Rückkehr in die Unterwelt, langsam über die Schwelle, zur Tür hinaus und kroch den Hang hinunter zum Palast.
»Verkauf mir deinen Stein, Victor. Gib mir die Chance, die Schönheit in seinem Inneren zu befreien.«
Victor kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Der Stein hat einen Fehler. Man kann ihn nicht behauen.«
»Darüber habe ich schon nachgedacht. Ich habe eine Möglichkeit gefunden und weiß, wie ich es anfangen kann.«
Victor berührte den Stein mit seiner Hand, fast als wollte er einen lieben, in Not geratenen Menschen trösten.
»Du kennst mich, Victor. Habe ich dich jemals auf irgendeine Weise hintergangen? Dir Schaden zugefügt?«
Er antwortete mit leiser Stimme: »Nein, Richard, hast du nicht.«
»Ich brauche diesen Stein, Victor. So wie er das Licht aufnimmt und wieder abgibt, kann ich mir kein besseres Stück Marmor vorstellen. Er weist eine Körnung auf, in der sich feinste Einzelheiten wiedergeben lassen. Für diese Statue brauche ich das allerbeste Material. Ich schwöre dir, Victor, wenn du ihn mir anvertraust, wird er deinen Vorstellungen gerecht werden. Ich werde deine Liebe zu diesem Stein nicht verraten, das schwöre ich dir.«
Sanft glitt die kräftige, schwielige Hand des Schmieds an dem weißen Marmorquader hinauf, der ihn fast um eine Körperlänge überragte.
»Und wenn du dich weigerst, ihnen ihre Statue zu meißeln?«
»Neal meinte, dann würden sie mich wieder ins Gefängnis werfen, solange, bis sie entweder ein Geständnis von mir bekommen oder ich an den Verhören zugrunde gehe. Ich würde für nichts im Himmel begraben werden.«