Выбрать главу

»Du bist ein Lügner. Ihr hattet zwei Schweine. Ihr hieltet es für angebracht, ein Schlemmerfest zu feiern, statt den Bedürftigen zu helfen.«

»Aber wir müssen doch essen.« Es war weniger ein Argument als eine Entschuldigung.

»Das müssen andere auch, aber die können sich nicht so glücklich schätzen wie ihr. Sie kennen nichts anderes als jede Nacht den nagenden Schmerz des Hungers in ihrem Bauch. Was ist das für ein widerwärtiges Trauerspiel, dass jeden Tag Tausende Kinder sterben, schlicht weil sie nichts zu essen haben, und Millionen andere den nagenden Schmerz des Hungers kennen – während Kerle wie du, in einem Land des Überflusses, nichts anderes vorzubringen haben als selbstsüchtige Ausflüchte. Zu haben, was man zum Leben braucht, ist ein Menschenrecht, das von denen respektiert werden muss, in deren Macht es steht, anderen zu helfen.

Unsere Soldaten müssen ebenfalls essen. Glaubst du vielleicht, unser Kampf zum Wohl der Menschen ist einfach? Tag für Tag setzen diese Männer ihr Leben aufs Spiel, damit du deine Kinder in einer anständigen, zivilisierten Gesellschaft großziehen kannst. Wie kannst du diesen Männern in die Augen sehen? Und wie können wir unsere Truppen auch nur mit Nahrungsmitteln versorgen, wenn nicht jeder Einzelne die gute Sache unterstützt?«

Der bebende Mann blieb stumm.

»Was kann ich tun, um euch den Ernst eurer Verpflichtung gegenüber dem Leben anderer einzuschärfen? Eure Spende an die Bedürftigen ist eine bindende moralische Pflicht – ein Beitrag zum größeren Wohle aller.«

Plötzlich wurde Nicci weiß vor Augen. Mit einem Schmerz wie von glühend heißen Nadeln, die ihr in die Ohren getrieben wurden, drang Jagangs Stimme durch ihren Verstand.

Warum müsst Ihr dieses Spielchen spielen? Bestraft die Menschen exemplarisch! Erteilt ihnen eine Lektion, dass man mich nicht ignorieren darf!

Nicci begann zu wanken. Der explosionsartige Schmerz in ihrem Kopf hatte sie vollständig blind gemacht. Sie ließ ihn durch ihren Körper fließen, als ob sie dies bei einem Fremden beobachtete. Ihre Unterleibsmuskeln zuckten und krampften sich zusammen. Hätte man sie der Länge nach mit einer rostigen, mit Widerhaken versehenen Lanze durchbohrt, die Schmerzen hätten unmöglich schlimmer sein können. Ihre Arme hingen schlaff herab, während sie darauf wartete, dass entweder Jagangs Ungehaltenheit ein Ende nahm oder der Tod sie ereilte.

Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange die Marter dauerte. Wenn er dies tat, verlor sie jedes Zeitgefühl – der Schmerz war zu allumfassend. Aus den Erzählungen anderer, die mitbekamen, was ihr angetan wurde, sowie aus eigener Anschauung, wenn es anderen widerfuhr, wusste sie, dass es manchmal nur einen kurzen Augenblick dauerte. Manchmal zog es sich über Stunden hin.

Es über Stunden auszudehnen kam einer Energievergeudung Jagangs gleich – sie vermochte keinen Unterschied zu erkennen und hatte ihm das auch gesagt.

Plötzlich konnte sie nicht mehr einatmen. Es war, als schlösse sich eine riesige Faust um ihr Herz, bis es nicht mehr schlug. Sie glaubte, ihre Lungen müssten bersten. Ihre Knie waren kurz davor, nachzugeben.

Wagt es nicht noch einmal, mir nicht zu gehorchen!

Mit einem tiefen Japsen füllten sich ihre Lungen wieder. Wie stets endete Jagangs Züchtigung mit einem unerträglich strengen, säuerlichen Geschmack auf der Zunge, so als hätte man plötzlich den Mund voll frischen, unreifen Zitronensafts, und einem brennenden Schmerz in den Nerven am Kieferansatz unterhalb der Ohrläppchen. Die Folge war ein dröhnender Schädel und Zähneklappern. Als sie die Augen aufschlug, war sie wie immer überrascht, nicht inmitten einer Blutlache zu stehen. Sie fasste sich an den Mundwinkel und betastete dann ein Ohr ganz leicht mit ihren Fingern. Sie konnte kein Blut entdecken.

Einen kurzen Augenblick fragte sie sich, wieso Jagang ausgerechnet jetzt in ihren Verstand hatte eindringen können, manchmal nämlich konnte er dies nicht. Bei keiner der anderen Schwestern spielte es sich auf diese Weise ab – zu deren Verstand hatte er stets Zugang.

Als ihr Blick sich wieder klärte, gewahrte sie Menschen, die sie anstarrten. Sie wussten nicht, weshalb sie stehen geblieben war. Die jungen Männer – und auch einige der älteren – riskierten verstohlene Seitenblicke auf ihren Körper. Sie waren es gewohnt, Frauen in eintönigen, formlosen Kleidern zu sehen, Frauen, deren Körpern man ansah, wie sehr die endlose Schufterei und die fast unablässige Schwangerschaft vom Zeitpunkt ihrer Fruchtbarkeit an sie mitgenommen hatte. Eine Frau wie Nicci hatten sie noch nicht zu Gesicht bekommen, eine Frau, aufrecht und hoch gewachsen, die ihnen in die Augen sah, die ein elegantes schwarzes Kleid trug, das sich um ihren nahezu makellosen, weder von harter Arbeit noch den Wehen der Geburt gezeichneten Körper schmiegte. Der tiefschwarze Stoff stand in scharfem Kontrast zum blassen Schwung ihres Dekolletes, das der Schnitt ihres spitzenbesetzten Mieders noch betonte. Nicci war gegen solche Blicke gefeit. Manchmal waren sie ihren Zwecken dienlich, meistens jedoch nicht, daher beachtete sie sie gar nicht.

Sie setzte ihren Marsch an den Menschen vorbei fort, Jagangs Befehle ignorierend; sie kam seinen Befehlen nur selten nach. In den meisten Fällen war sie gleichgültig gegenüber seinen Züchtigungen. Wenn überhaupt, so ließ sie sie mit Freuden über sich ergehen.

Vergebt mir, Nicci. Ihr wisst, ich wollte Euch nicht wehtun.

Auch seine Stimme überhörte sie, während sie die zu ihr aufschauenden Augen musterte. Nicht jeder wagte das. Sie mochte es, denen in die Augen zu sehen, die den Mut hatten, heimlich einen Blick auf sie zu riskieren. Die meisten hatten einfach entsetzliche Angst.

Eine Befürchtung, die sich schon bald als überaus berechtigt erweisen würde.

Ihr müsst tun, was ich von Euch verlange, Nicci, sonst zwingt Ihr mich am Ende nur, Euch etwas Grauenhaftes anzutun. Das wollen wir beide nicht. Eines schönen Tages werde ich etwas tun, von dem Ihr Euch nicht mehr erholen werdet.

Wenn das Euer Wunsch ist, bitte, antwortete sie in Gedanken.

Es war nicht als Herausforderung gedacht, es war ihr schlicht egal.

Ihr wisst, das ist nicht mein Wunsch, Nicci.

Ohne die Schmerzen war seine Stimme kaum störender als eine lästige Fliege; sie achtete nicht auf sie. Stattdessen richtete sie das Wort an die Menge.

»Habt ihr eigentlich eine Vorstellung, welche Mühen für den Kampf um eure Zukunft aufgewendet werden? Oder erwartet ihr etwa zu profitieren, ohne selbst etwas zu tun? Viele unserer tapferen Soldaten haben im Kampf gegen die Unterdrücker des Volkes, im Kampf für unseren Neuanfang ihr Leben gelassen. Wir kämpfen, damit alle Menschen gleichermaßen am zukünftigen Wohlstand teilhaben können. Ihr seid verpflichtet, uns in unserem Bemühen um euer Wohl zu unterstützen. So wie jeder Einzelne die moralische Verpflichtung hat, den Bedürftigen zu helfen, so ist auch dies seine Pflicht.«

Commander Kardeef, einen Ausdruck säuerlichen Missfallens im Gesicht, pflanzte sich vor ihr auf. Das schräg in sein zerfurchtes Gesicht einfallende Sonnenlicht tauchte seine halb geschlossenen Augen in tiefe Schatten. Seine Missbilligung ließ sie ungerührt, er war nie mit irgendwas zufrieden. Nun gut, verbesserte sie sich, fast nie.

»Nur durch Gehorsam und Opfer können die Menschen Tugend erlangen. Euer Beitrag zum Orden besteht darin, für ihre Willfährigkeit zu sorgen. Wir sind nicht hier, um Unterricht in Bürgerrecht abzuhalten.«

Commander Kardeef war sich seiner standesbedingten Macht über sie gewiss, auch er hatte ihr bereits Schmerzen zugefügt. Was Kadar Kardeef ihr antat, ließ sie mit derselben Gleichgültigkeit über sich ergehen wie das, was Jagang ihr zufügte.

Nur in den tiefsten Abgründen des Schmerzes vermochte sie ansatzweise etwas zu empfinden; selbst der Schmerz war jener absoluten Leere vorzuziehen, die sie sonst verspürte.

Kadar Kardeef wusste vermutlich nichts von der Züchtigung, die Jagang soeben beendet hatte, oder von seinen Anordnungen. Seine Exzellenz machte von Commander Kardeefs Verstand keinen Gebrauch. Für Jagang war es ein mühevolles Unterfangen, Menschen zu beherrschen, die die Gabe nicht besaßen – er konnte es, doch lohnte es selten die Mühe. Er überließ es denen mit der Gabe, die Menschen für ihn zu kontrollieren. In gewisser Weise bediente sich ein Traumwandler der Gabe bei denen, die sie besaßen, um die Verbindung zu ihrem Verstand herzustellen. Man könnte sagen, wer die Gabe besaß, ermöglichte es Jagang überhaupt erst, ihn so mühelos zu beherrschen.