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Von Zeit zu Zeit öffnete er die Tür, um das knöcheltiefe Geröll hinauszuschaufeln; mit einem Geräusch wie von tausend winzigen Glöckchen glitt der Schutt wie eine Lawine den Hang hinunter. Der weiße Staub, der ihn bedeckte, war durchzogen von Rinnsalen aus dunklem Schweiß und roten Kratzern. Die kühle Luft fühlte sich erfrischend an auf seiner schweißnassen Haut. Dann aber schloss er die Nacht, und mit ihr die Welt, wieder aus, um allein zu sein.

Zum allerersten Mal seit nahezu einem Jahr fühlte Richard sich frei. Bei dieser Arbeit unterlag alles seiner Kontrolle, niemand schaute ihm über die Schulter, niemand erklärte ihm, was er zu tun hatte.

Diese Arbeit war sein einziges Ziel, bei dem er nach Vollkommenheit trachtete. Es gab weder Ketten noch Einschränkungen, keine Wünsche anderer, denen er sich beugen musste. In diesem Kampf um das Erreichen des Bestmöglichen war er vollkommen frei.

Was er beabsichtigte, stand in unnachgiebigem Widerspruch zu allem, was den Orden ausmachte. Er beabsichtigte, ihnen das Leben selbst vor Augen zu führen.

Richard wusste, sobald die Ordensbrüder die Statue zu Gesicht bekamen, würden sie ihn zum Tod verurteilen.

Steinsplitter sprangen davon und brachten ihn seinem Ziel mit jedem Hieb näher. Um an den Oberrand des Marmorquaders heranreichen zu können, musste er sich auf einen Hocker stellen, den er um den Monolithen herumrückte, während er diesen von allen Seiten allmählich seiner späteren Gestalt annäherte.

Richard schwang den stählernen Hammer mit dem Ungestüm des Kampfes. Die Hand, die den Meißel hielt, brannte unter den klingenden Schlägen. So heftig seine Attacke war, so kontrolliert war sie. Für diese groben Arbeiten hätte man auch eine Hammerspitzhaue, Spitzhacke genannt, benutzen können. Mit ihr ließe sich das überflüssige Geröll schneller entfernen als mit einem schweren Meißel, aber sie wurde mit weitem Schwung geführt; wegen des Fehlers hatte Richard jedoch Angst, diesen Stein so großen Kräften auszusetzen. Anfangs besaß der Quader allein durch seine schiere Masse Kraft, doch selbst da erachtete er eine solche Spitzhacke als zu gefährlich für diesen Stein.

Richard würde sich von Victor einen Satz Bohrspitzen für einen Bogenbohrer anfertigen lassen. Wenn man die Bogensehne um den Schaft des Bohrers wickelte, konnte man diesen drehen und in den Marmor bohren. Richard hatte lange und ausgiebig über das Problem des Gesteinsfehlers nachgedacht und beschlossen, ihn weitgehend herauszumeißeln. Um zu verhindern, dass sich zusätzliche Risse im Gestein bildeten, würde er als Erstes Löcher durch den Riss hindurchbohren, um dem Stein die Spannung zu nehmen. Mit einer weiteren Reihe eng gesetzter Löcher wollte er das Gestein im Bereich rings um den Fehler, der weggeschlagen werden würde, porös machen und das meiste davon einfach herausmeißeln.

Somit würden zwei Figuren entstehen: ein Mann und eine Frau. Nach Fertigstellung würde der Raum zwischen ihnen sich genau dort befinden, wo Richard die heikelsten Stellen des Fehlers herausgeschlagen hatte. War das poröseste Gestein erst einmal entfernt, würde der restliche Stein stabil genug sein, um der Belastung des Bearbeitens standzuhalten. Da der Fehler am Sockel ansetzte, konnte er ihn nicht restlos beseitigen, aber er konnte das Problem, das er darstellte, auf ein handhabbares Maß vermindern. Das war das Geheimnis dieses Quaders: man musste erst seine Schwächen beseitigen, bevor man seine Stärken herausarbeiten konnte.

Richard hielt den Fehler für einen Glücksfall, vor allem deswegen, weil er den Wert des Steins minderte, weswegen Victor ihn überhaupt erst hatte kaufen können. In Richards Augen hatte der Fehler auch sein Gutes, denn er hatte ihn auf die Idee gebracht, sich über den Stein und seine Bearbeitung Gedanken zu machen, und diese Gedanken hatten schließlich zu seinem Vorhaben geführt. Ohne den Fehler wäre er womöglich nicht auf den gleichen Plan verfallen.

Während der Arbeit war er ganz erfüllt von der Energie des Kampfes, trieb ihn die Hitze des Gefechts voran. Gestein stand zwischen ihm und dem, was er schaffen wollte, und es verlangte ihn danach, dieses Zuviel an Material zu beseitigen, um zum Wesen der Figuren vorzudringen. Eine große Ecke Gesteinsabfall löste sich und glitt herunter, langsam erst, um schließlich krachend auf dem Boden zu landen. Während er weiterarbeitete, regneten Splitter und Bruchstücke hernieder und begruben den gefallenen Widersacher unter sich.

Mehrere Male noch musste er die Türen öffnen, um den Gesteinsabfall nach draußen zu schaufeln. Zu sehen, wie der vormals unregelmäßig geformte Quader erste Konturen annahm, verlieh ihm neue Kräfte. Noch waren die Figuren völlig eingeschlossen, Arme und Beine noch weit davon entfernt, frei zu sein, und ihre Beine noch nicht getrennt, doch sie begannen sich abzuzeichnen. Er würde behutsam vorgehen und Löcher in die Zwischenräume bohren müssen, um zu verhindern, dass die Arme abbrachen.

Zu Richards Überraschung sah er Licht durch die Dachluken fallen. Ohne es zu merken, hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet.

Er trat zurück und betrachtete prüfend die Statue, die jetzt mehr oder weniger einem groben Kegel glich. Zurzeit befanden sich dort, wo sich einmal die Arme aus den Körpern lösen würden, noch unförmige Gesteinsmassen. Er wollte, dass die Arme frei schwebten, die Körper Eleganz und Bewegung vermittelten: Leben. Was er bislang für den Orden bildhauerte, wirkte niemals befreit, sondern blieb stets fest im Stein gefangen, für immer starr und bewegungsunfähig wie bei einem Toten.

Richard brannte darauf, zu bleiben und weiterzuarbeiten, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Aus der Ecke grub er die Zelttuchplane hervor, die Victor ihm dagelassen hatte, und deckte die Statue damit ab.

Als er die Türen aufstieß, wallte der weiße Staub nach draußen. Victor saß inmitten der Trümmer seines steinernen Monolithen.

Der Schmied blinzelte fassungslos. »Du warst die ganze Nacht dort drinnen, Richard!«

»Schätze schon.«

Victor fuchtelte mit den Armen, während ein breites Grinsen sein Gesicht teilte. »Du siehst aus wie eine Gütige Seele. Wie geht der Kampf mit dem Stein voran?«

Richard wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er brachte nur ein freudiges Lächeln zu Stande.

Victor lachte sein aus dem Bauch kommendes Lachen. »Dein Gesicht sagt alles. Du musst müde und hungrig sein, komm, setz dich hin und ruh dich ein wenig aus – und iss ein Stück Lardo.«

Nicci hörte, wie Kamil und Nabbi Richard lauthals begrüßten, als er die Straße heraufkam, anschließend das Getrappel ihrer Schritte, als sie die Vordertreppe hinunterstürmten. Sie warf einen Blick zum vorderen Fenster hinaus und sah im schwindenden Licht der Abenddämmerung, wie sie ihm entgegenliefen, als er die Straße heraufkam. Auch sie war froh, ihn so zeitig nach Hause kommen zu sehen.

In den Wochen, seit er sich darauf eingelassen hatte, die Statue für Bruder Narev zu bildhauern, hatte Nicci herzlich wenig von Richard zu sehen bekommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Richard es ertrug, eine Statue zu meißeln, die für ihn einer einzigen Qual gleichkam – nicht so sehr wegen ihrer Größe, sondern wegen ihrer Beschaffenheit.

Doch wenn überhaupt, so wirkte Richard geradezu beseelt. Oft arbeitete er, nachdem er den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, die Moralpredigten für die Fassade des Palastes in Stein zu hauen, anschließend noch bis spät in die Nacht an der großen Statue für den Vorplatz. Obwohl er beim Nachhausekommen müde sein musste, lief er manchmal unruhig auf und ab; es gab Nächte, in denen er nur ein, zwei Stunden schlief, aufstand und loszog, um noch mehrere Stunden vor Beginn seines eigentlichen Arbeitstages auf der Baustelle an seiner Statue zu arbeiten; mehrmals schon hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet.

Richard schien wie von einer inneren Kraft getrieben. Nicci wusste nicht, wie er es schaffte. Manchmal kam er nach Hause, um etwas zu essen und sich für eine Stunde aufs Ohr zu legen, um gleich darauf wieder zurückzueilen. Sie drängte ihn, zu bleiben und sich auszuschlafen, woraufhin er gewöhnlich erwiderte, er müsse seine Buße ableisten, da man ihn sonst wieder ins Gefängnis stecken würde. Auch Nicci machte diese Möglichkeit Angst, weswegen sie nicht darauf bestand, dass er zum Schlafen blieb. Immer noch besser, er verlor seinen Schlaf als gleich sein Leben.