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Muskulös und kräftig war er schon immer gewesen, seit er jedoch in die Alte Welt gekommen war, waren seine Muskeln noch schlanker und ausgeprägter geworden. Die schwere Arbeit, erst beim Transport von Eisen und jetzt beim Schleppen von Steinen und beim Hammerschwingen, hatte seine Kräfte zusätzlich gestärkt. Wenn er nach draußen zu den Waschschüsseln ging und sein Hemd auszog, um sich den Gesteinsstaub abzuspülen, bekam sie bei seinem Anblick weiche Knie.

Nicci hörte Schritte den Flur entlangkommen, sowie die aufgeregt fragenden Stimmen von Kamil und Nabbi. Was Richard sagte, konnte sie nicht verstehen, hatte aber keine Mühe, das Timbre seiner Stimme zu erkennen, als er die Fragen der beiden ruhig beantwortete.

So müde er war, so oft er fort auf seiner Arbeitsstelle weilte, immer nahm er sich noch Zeit, mit Kamil und Nabbi und den anderen Hausbewohnern zu sprechen. Bestimmt war er jetzt auf dem Weg hinters Haus, um den beiden Tipps für ihre Schnitzerei zu geben.

Tagsüber werkelten sie am und um das Haus, machten sauber und kümmerten sich um alles. Sie gruben die Gartenerde um und mischten, wenn es so weit war, Kompost darunter. Die Frauen wussten es zu schätzen, dass ihnen jemand die schwere Arbeit mit dem Spaten abnahm. Die beiden putzten, strichen an und reparierten, in der Hoffnung, Richards Anerkennung zu finden, der ihnen daraufhin vielleicht etwas Neues zeigte. Stets boten Kamil und Nabbi Nicci ihre Hilfe an bei allem, was sie vielleicht benötigte – schließlich war sie Richards Ehefrau.

Nicci stand gerade am Tisch und schnitt Möhren und Zwiebeln in einen Kochtopf, als Richard zur Tür hereinkam. Er ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen. Nach seinem Arbeitstag – und nachdem er bereits Stunden vorher aufgestanden war, um an seiner Statue zu arbeiten – sah er erschöpft aus.

»Ich bin heimgekommen, um etwas zu essen. Ich muss wieder zurück und an der Statue weiterarbeiten.«

»Das ist für den Eintopf morgen. Ich habe dir Hirsebrei gekocht.«

»Ist sonst noch etwas drin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Heute hatte ich gerade mal genug Geld für Hirse.«

Er nickte klaglos.

So erschöpft er auch aussah, in seinen Augen war eine bemerkenswerte Eigenschaft zu erkennen, eine innere Glut, die ihren Puls schneller schlagen ließ. Was immer es war, das sie vom ersten Augenblick an erkannt zu haben glaubte, es schien sich seit jener Nacht, als sie ihm fast das Messer ins Herz gestoßen hätte, noch verstärkt zu haben.

»Den Eintopf gibt es morgen«, erklärte sie noch einmal. Seine grauen Augen waren starr auf seine inneren Bilder und Visionen gerichtet. »Es stammt alles aus dem Garten.«

Nachdem sie eine Holzschale vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, nahm sie den Kochtopf vom Feuer und löffelte Hirsebrei in seine Schale, bis sie voll war. Ein kleiner Rest blieb übrig, aber den brauchte er dringender als sie. Den ganzen Vormittag hatte sie damit zugebracht, sich für die Hirse anzustellen, und anschließend hatte sie den Nachmittag gebraucht, um all die Maden herauszupicken. Manche Frauen kochten ihn einfach, bis man es nicht mehr erkennen konnte. So etwas wollte Nicci Richard nicht vorsetzen.

Sie stand ganz nah am Tisch und schnitt Möhren klein, als sie es schließlich nicht länger aushielt. »Richard, ich möchte dich zur Baustelle begleiten und mir die Statue anschauen, die du für den Orden machst.«

Er schwieg einen Augenblick, kaute und schluckte. Als er schließlich sprach, tat er dies mit ebenjener Ruhe, die genau dem unerklärlichen Ausdruck seiner Augen entsprach.

»Ich möchte auch, dass du die Statue siehst, Nicci – ich will, dass alle sie sehen. Aber erst, wenn ich fertig bin.«

»Warum?«

Er rührte mit seinem Löffel in der Schale. »Bitte, Nicci, gesteh mir das eine zu. Lass sie mich vollenden, dann wirst du sie sehen.«

Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen. Offenbar war ihm dies sehr wichtig.

»Du meißelst gar nicht das, was man dir aufgetragen hat, hab ich Recht?«

»Nein, das tue ich nicht. Ich bildhauere das, was ich machen muss und was die Menschen sehen müssen.«

Nicci schluckte. Ihr war klar: Das war es, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. Erst war er bereit gewesen, alles hinzuschmeißen, dann war er zu neuem Leben erwacht, und nun war er bereit, dafür zu sterben.

Nicci nickte nur; sie konnte ihm nicht länger in seine grauen Augen schauen. »Ich werde warten, bis sie fertig ist.«

Jetzt wusste sie, warum er in letzter Zeit so gehetzt wirkte. Irgendwie hatte diese Eigenart damit zu tun, die sich auch damals in den Augen ihres Vaters angedeutet hatte und die nun in Richards Augen lichterloh brannte. Schon die Vorstellung war berauschend.

Dies war in mehr als einer Hinsicht eine Frage auf Leben und Tod.

»Bist du dir sicher, Richard?«

»Bin ich.«

Sie nickte abermals. »Also gut. Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. «

Am nächsten Tag war Nicci früh auf den Beinen, um Brot zu kaufen. Sie wollte, dass Richard Brot zu dem Eintopf bekam, den sie gerade kochte. Kamil bot ihr an, ihr den Gang abzunehmen, aber sie wollte aus dem Haus herauskommen. Sie bat ihn, ein Auge auf Richards Eintopf zu halten, der auf frisch aufgelegten Kohlen vor sich hin köchelte.

Es war ein bedeckter und kühler Tag – ein erster Vorbote des rasch nahenden Winters. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die auf Arbeitssuche waren, von Karren, die alles, von Düngemitteln bis hin zu Ballen derben dunklen Tuches, transportierten, und von Wagen, die meist Baumaterialien für den Palast beförderten. Als sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnte, musste sie darauf achten, wohin sie die Füße setzte, um dem Straßenkot auszuweichen und sich durch den Menschenstrom zu zwängen, der sich ebenso langsam fortbewegte wie der Schlamm der offenen Kanalisation.

Scharen von Bedürftigen verstopften die Straßen; viele von ihnen waren zweifellos auf Arbeitssuche nach Altur’Rang gekommen, auch wenn der Saal des Arbeiterkollektivs nur spärlich besucht war. Die Schlangen vor den Bäckereien waren lang, doch immerhin sorgte der Orden dafür, dass die Menschen Brot bekamen, auch wenn es graues, hartes Brot war. Man musste allerdings früh hingehen, bevor es ausverkauft war. Da die Zahl der Menschen ständig wuchs, ging es den Geschäften jede Woche früher aus.

Eins Tages, so gingen die Gerüchte, würde der Orden im Stande sein, mehr als eine Brotsorte bereitzustellen. Sie hoffte, wenigstens heute auch etwas Butter ergattern zu können. Manchmal wurde Butter angeboten. Brot und Butter waren billig, sie wusste also, dass sie es sich würde leisten können, ein kleines Stück für Richard einzukaufen – vorausgesetzt, es gab überhaupt welche. Das kam jedoch so gut wie nie vor.

Einhundertundachtzig Jahre hatte Nicci damit zugebracht, anderen Menschen zu helfen, und doch schien es den Menschen nicht besser zu gehen als zuvor. Wer allerdings in der Neuen Welt lebte, der war durchaus wohlhabend. Eines Tages, wenn der Orden die Welt beherrschte und man diejenigen, die über die entsprechenden Mittel verfügten, dazu zwingen konnte, ihren Mitmenschen den ihnen zustehenden Anteil abzugeben, dann würde sich endlich alles fügen, und die gesamte Menschheit würde zu guter Letzt in jener Würde leben können, die ihr gebührte. Dafür würde der Orden schon sorgen.

Das Brotgeschäft befand sich an der Kreuzung zweier Straßen, daher reichte die Warteschlange bis um die Ecke. Hinter dieser Ecke stand Nicci, eine Schulter an die Wand gelehnt, und beobachtete die vorüberziehenden Menschenströme, als ein Gesicht in der Menge ihre Aufmerksamkeit erregte.

Ihre Augen weiteten sich, und sie richtete sich auf, traute kaum ihren Augen. Was tat sie in Altur’Rang?

Eigentlich verspürte Nicci gar nicht den Wunsch, es herauszufinden – nicht jetzt, da alles darauf hindeutete, dass sie kurz davor stand, ihre Antworten zu bekommen. Was Richard betraf, schienen sich die Dinge in ihrer entscheidenden Phase zu befinden. Sie war sicher, dass sich bald alles klären würde.