Nicci warf den dunklen Schal über ihren blonden Haarschopf und verknotete ihn fest unterm Kinn. Sich hinter den breiten Rücken einer Frau schiebend, drückte sie sich an die Mauer und spähte zwischen den Schlange stehenden Menschen hindurch.
Nicci beobachtete Schwester Alessandra, die, ihre Nase emporgereckt, ihren berechnenden Blick über die Gesichter der Menschen in der Straße gleiten ließ. Sie sah aus wie ein Berglöwe auf Beutefang.
Nicci wusste, auf wen Alessandra es abgesehen hatte.
Unter normalen Umständen wäre Nicci überaus erfreut gewesen, dass sich ihr Weg mit dem dieser Frau kreuzte, nicht jedoch jetzt.
Nicci ließ sich gegen die groben Schindeln sinken und duckte sich hinter die vor ihr Stehenden, bis Schwester Alessandra in dem endlosen Meer aus Menschen untergetaucht war, die sich durch die Straßen schoben.
61
Als Kahlan zum letzten Mal aus ihrer Heimatstadt Aydindril herausritt, zog sie ihren Wolfspelzüberwurf als Schutz gegen den bitterkalten Wind bis über ihre Schultern. Sie musste daran denken, dass sie das letzte Mal, als der Winter mit einem Wetterumschwung hereinzubrechen drohte, auch Richard zum letzten Mal gesehen hatte. Ihre Gedanken schienen – seit die Welt unablässig in Aufruhr und die kriegerische Auseinandersetzung in ihre heiße Phase eingetreten war – zwangsläufig stets um drängende Probleme zu kreisen. Die unerwartete Erinnerung an Richard war eine willkommene, wenn auch bittersüße Unterbrechung ihrer Sorge um den Krieg.
Bevor sie die Hügelkuppe überquerte, sah sie sich ein allerletztes Mal um und betrachtete die Pracht des Palastes der Konfessoren auf seinem fernen Hügel. Jedes Mal, wenn sie die hoch aufragenden weißen Marmorsäulen und die Reihen hoher Fenster sah, verspürte sie ein schmerzlich sehnsuchtsvolles Gefühl von Heimat. Andere Menschen wurden beim Anblick des Palastes von Ehrfurcht oder Angst ergriffen, Kahlan dagegen wurde es stets warm ums Herz. Sie war dort aufgewachsen, und er war für sie ein Ort zahlloser glücklicher Erinnerungen.
»Es ist nicht für immer, Kahlan.«
Kahlan schaute zu Verna hinüber. »Nein, das ist es nicht.«
Wie gerne hätte sie es geglaubt.
»Außerdem«, fuhr Verna ihr zulächelnd fort, »werden wir verhindern, dass der Imperialen Ordnung die Bevölkerung in die Hände fällt, denn die ist es, worauf sie es in Wahrheit abgesehen haben. Alles Übrige ist nicht mehr als ein bisschen Holz und ein paar Steine. Was zählen Steine und Holz, wenn die Menschen in Sicherheit sind?«
Trotz ihrer verzweifelten Tränen wurde Kahlan von einem Lächeln übermannt. »Ihr habt ganz Recht, Verna. In Wirklichkeit zählt allein das. Danke, dass Ihr mich daran erinnert habt.«
»Seid unbesorgt, Mutter Konfessor«, meinte Cara, »Berdine und die übrigen Mord-Sith werden gemeinsam mit den Truppen über die Bevölkerung wachen und sie sicher nach D’Hara führen.«
Kahlans Lächeln wurde breiter. »Ich wünschte, ich könnte Jagangs Gesicht sehen, wenn er im nächsten Frühjahr endlich hier eintrifft und nur von Gespenstern begrüßt wird.«
Die kriegerische Jahreszeit neigte sich dem Ende zu. Wenn der Sommer mit Richard in ihrem Zuhause in den Bergen ein wunderbarer Traum gewesen war, dann war dieser Sommer mit seinen niemals endenden kriegerischen Auseinandersetzungen ein einziger Albtraum gewesen.
Die Kämpfe waren voller Verzweiflung und mit aller Heftigkeit geführt worden und hatten einen hohen Blutzoll gefordert. Es hatte Zeiten gegeben, da Kahlan geglaubt hatte, dass weder sie noch die Armee im Stande wären weiterzumachen und sie am Ende seien. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen sie den Tod fast willkommen geheißen hätte, nur um den Albtraum zu beenden und nicht mehr mit ansehen zu müssen, wie die Menschen qualvoll litten, nicht mehr mitansehen zu müssen, wie all diese kostbaren Menschenleben zugrunde gingen.
Trotz der scheinbar unbezwingbaren Millionen der Imperialen Ordnung war es den d’Haranischen Streitkräften gelungen, den Vormarsch des Feindes aufzuhalten und so zu verhindern, dass er Aydindril noch in diesem Jahr einnahm. Um den Preis von tausenden im Kampf verlorener Menschenleben hatten sie hunderttausenden von Menschen in Aydindril und anderen Städten, die an der Vormarschroute der Imperialen Ordnung lagen, jene Zeit erkauft, die sie zur Flucht benötigten.
Als das Herbstwetter allmählich unfreundlich wurde, hatte das gewaltige Heer der Imperialen Ordnung ein weites Tal am Zusammenfluss des Kern und eines seiner großen Nebenflüsse erreicht, wo die örtlichen Gegebenheiten ihnen genügend Platz für die Unterbringung ihrer gesamten Streitmacht boten. Jetzt, da der Winter unmittelbar bevorstand, war Jagang nicht so unklug, sich unvorbereitet ertappen zu lassen. Sie hatten sich, solange noch Gelegenheit dazu war, eingegraben. Die d’Haranischen Streitkräfte hatten nach Norden hin ihre Verteidigungslinien eingerichtet und den Weg nach Aydindril mit Bollwerken befestigt.
Wie von Warren vorhergesehen, war Aydindril in dieser Kriegssaison noch ein zu großer Happen für Jagangs Armee. Wieder einmal hatte Jagang einen Beweis seiner klugen Geduld geliefert: Er hatte sich entschieden, die Lebensfähigkeit seiner Armee zu erhalten, um erfolgreich weitermarschieren zu können, sobald die Witterungsbedingungen dies zuließen. Kurzfristig gab das Kahlan und ihren Streitkräften Raum zum Atmen, langfristig aber war ihr Schicksal damit besiegelt.
Kahlan empfand wohltuende Erleichterung darüber, dass sich Warrens Ankündigung, Aydindril werde im folgenden Jahr fallen, wenigstens nicht um den Preis des Abschlachtens der Bürger der Stadt erfüllen würde. Sie wusste nicht, welche Mühsal die Menschen auf ihrer Flucht nach D’Hara würden erleiden müssen, aber alles war besser als die sichere Versklavung und das massenhafte Sterben, die sie erwarteten, wenn sie in Aydindril blieben.
Einige Menschen, das wusste sie, würden sich weigern, die Stadt zu verlassen. In manchen Städten entlang der Vormarschroute des Ordens der Imperialen Ordnung durch die Midlands setzten einige Menschen ihre ganze Hoffnung auf ›Jagang den Gerechten‹. Wieder andere glaubten, die Gütigen Seelen oder der Schöpfer würden, was immer auch geschah, über sie wachen. Kahlan war sich darüber im Klaren, dass sie nicht alle Menschen vor sich selbst retten konnte. Wer überleben wollte und gewillt war, sich der Vernunft zu beugen, hatte eine Chance. Wer nur das sah, was er sehen wollte, über den würde sich letztendlich das Leichentuch der Herrschaft des Ordens legen.
Kahlan langte nach hinten und berührte das Heft des Schwertes der Wahrheit, das hinter ihrer Schulter in die Höhe ragte. Manchmal war ihr seine Berührung ein Trost, denn der Palast der Konfessoren war längst nicht mehr ihr Zuhause. Zu Hause, das war dort, wo immer Richard und sie zusammen sein konnten.
Oft waren die Kämpfe so heftig, die Angst so sehr mit Händen greifbar, dass es Zeiten gab – manchmal Tage hintereinander –, in denen sie überhaupt nicht an ihn dachte; manchmal musste sie alle ihre körperlichen und geistigen Kräften aufbieten, nur um den Tag zu überstehen.
Einige Männer waren aus dem Gefühl der Aussichtslosigkeit dieses Krieges desertiert. Kahlan konnte es ihnen nicht verdenken. Nie, so schien es, taten sie etwas anderes, als ihr Leben gegen eine überwältigende Übermacht zu verteidigen, während sie sich quer durch die gesamten Midlands zurückzogen.
Galea war gefallen. Dass es aus keiner Stadt in Galea Nachricht gab, besagte alles.
Auch Kelton hatten sie verloren. Vielen Keltoniern aus Winstead, Penverro und anderen Städten war vorher jedoch die Flucht gelungen. Der größte Teil der keltonischen Armee befand sich noch bei ihnen, obwohl manche sich auch aus Verzweiflung überstürzt in ihre Heimat abgesetzt hatten.
Um den Mut nicht zu verlieren, versuchte Kahlan nicht zu lange über all das nachzudenken, was schief gegangen war. Sie hatten eine große Zahl von Menschen gerettet – und sie aus dem Weg der Imperialen Ordnung geschafft, wenigstens vorerst. Mehr hatten sie nicht tun können.