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Kadar Kardeef blickte verärgert auf sie herab, als sie in sein sonnengebräuntes, faltiges Gesicht hinaufsah. Er bot – mit seinen dornenbesetzten Lederriemen quer über seiner massiven Brust, seinem gepanzerten Schulter- und Brustharnisch, seinem Kettenpanzer und seiner Ansammlung viel gebrauchter Waffen – eine eindrucksvolle Erscheinung und wies, als stumme Zeugen seiner Tapferkeit im Kampf, am ganzen Körper zahlreiche Narben auf. Sie hatte sie allesamt gesehen.

Wenige Offiziere standen im Rang höher, wenigen brachte man mehr Vertrauen entgegen als Kadar Kardeef. Er gehörte der Imperialen Ordnung seit seiner Jugend an, hatte sich immer weiter emporgedient, bis er an Jagangs Seite kämpfte, als man das Imperium der Imperialen Ordnung von ihrem Heimatland Altur’Rang ausgehend ausweitete, um nach und nach den Rest der Alten Welt zu unterwerfen. Kadar Kardeef war der Held des Feldzugs ›Kleine Bresche‹, jener Mann, der beinahe ganz allein dem Verlauf der Schlacht eine Wendung gegeben hatte, als er die Feindeslinien durchbrach und persönlich jene drei mächtigen Könige niedermetzelte, die ihre Truppen vereint hatten, um die Imperiale Ordnung in die Falle zu locken und vernichtend zu schlagen, bevor diese Gelegenheit fand, die Fantasie von Millionen in einem Flickenteppich aus Königreichen, Lehngütern, Clans, Stadtstaaten und endlosen, von Bündnissen diverser Kriegsherren kontrollierten Gebieten lebenden Menschen zu besetzen.

Die Alte Welt war ein Pulverfass gewesen, das nur auf den Funken der Revolution gewartet hatte. Diesen Funken bildeten die Predigten der Imperialen Ordnung. Waren die Hohepriester die Seele des Ordens, dann war Jagang sein Skelett und seine Muskeln. Wenige Menschen begriffen Jagangs Genie – entweder sahen sie nur den Traumwandler oder den grimmig kämpfenden Krieger. Er war weit mehr.

Jagang hatte Jahrzehnte gebraucht, um den Rest der Alten Welt in die Knie zu zwingen – und den Orden endlich auf den Weg zu größerem Ruhm zu bringen. Während jener Jahre des Kampfes für den Orden hatte Jagang, obwohl fast ständig in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, hart am Aufbau jenes Straßensystems gearbeitet, das es ihm ermöglichte, Truppen und Nachschub in Windeseile über große Entfernungen zu transportieren. Je mehr Länder und Völker er sich einverleibte, desto mehr Arbeitskräfte setzte er zum Bau von noch mehr Straßen ein, über die er noch mehr Land erobern konnte. Auf diese Weise konnte er die Verbindungen aufrechterhalten und schneller auf Situationen reagieren, als irgendwer jemals für möglich gehalten hätte. Ehemals entlegene Regionen waren auf einmal mit dem Rest der Alten Welt verbunden, Jagang hatte sie über ein Straßennetz fest miteinander verknüpft. Entlang dieser Straßen hatten sich die Völker der Alten Welt erhoben und sich ihm angeschlossen, als er der Imperialen Ordnung den Weg bereitete.

Bei alledem war Kadar Kardeef dabei gewesen. Mehr als einmal hatte er Verwundungen davongetragen, als er Jagang das Leben rettete. Einmal hatte Jagang den Bolzen einer Armbrust abgefangen, um Kardeef zu retten. Falls man überhaupt davon ausgehen konnte, dass Jagang einen Freund besaß, so traf dies am ehesten auf Kadar Kardeef zu.

Nicci war Kardeef zum ersten Mal begegnet, als er zum Beten in den Palast der Propheten in Tanimura gekommen war. Der alte König Gregor, der damals das Land und damit auch Tanimura regierte, war gerade spurlos verschwunden. Kadar Kardeef galt als ernster und gottesfürchtiger Mann; vor der Schlacht betete er zum Schöpfer für das Blut des Feindes und danach für die Seelen jener Männer, die er getötet hatte. An jenem Tag, so hieß es, hatte er angeblich für die Seele König Gregors gebetet. Plötzlich stellte die Imperiale Ordnung die neuen Herrscher in Tanimura. Die Menschen feierten tagelang in den Straßen.

Im Verlauf von drei Jahrtausenden hatten die Schwestern in ihrem Zuhause im Palast der Propheten in Tanimura Regierungen kommen und gehen sehen. In den meisten Fällen betrachteten die Schwestern unter der Führung ihrer Prälatin Regierungsangelegenheiten als kleinliche Albernheiten, die man am besten gar nicht beachtete; sie glaubten an eine höhere Berufung. Die Schwestern waren überzeugt, sie würden im Palast der Propheten bleiben und ungestört ihrer Arbeit nachgehen können, noch lange nachdem der Orden dem Staub der Geschichte anheim gefallen wäre. Es hatte zahlreiche Revolutionen gegeben, und alle waren wirkungslos verpufft. Diese jedoch riss sie mit.

Damals war Kadar Kardeef – fast zwanzig Jahre jünger – als gut aussehender Eroberer in die Stadt hineingeritten. Viele der Schwestern waren fasziniert von diesem Mann, Nicci nicht. Er dagegen war fasziniert von ihr.

Selbstverständlich sandte Kaiser Jagang Männer von so unschätzbarem Wert wie Commander Kardeef nicht aus, um bereits eroberte Länder zu befrieden. Er hatte Kardeef mit einer sehr viel wichtigeren Aufgabe betraut: Er sollte seinen kostbaren Besitz bewachen – Nicci.

Nicci löste ihre Aufmerksamkeit von Kadar Kardeef und wandte sich wieder den Leuten zu.

Sie richtete ihren festen Blick auf jenen Mann, der zuvor gesprochen hatte. »Wir können nicht zulassen, dass jemand seine Verantwortung auf andere und auf unseren Neuanfang abwälzt.«

»Bitte, Herrin … wir besitzen nichts…«

»Gleichgültigkeit unserer Sache gegenüber ist Verrat.«

Er besann sich eines Besseren und verkniff es sich, dieser Feststellung zu widersprechen.

»Du scheinst nicht zu verstehen. Dieser Mann in meinem Rücken aber will, dass du Folgendes begreifst: Die Imperiale Ordnung lässt sich in der Treue zu ihren Zielen nicht beirren – wenn du deine Pflicht nicht erfüllst. Ich weiß, du hast die Geschichten gehört, dieser Mann aber möchte, dass du die grausame Wirklichkeit kennen lernst. Es sich nur vorzustellen ist niemals ganz dasselbe. Und niemals ganz so grauenhaft.«

Sie starrte den Mann unverwandt an und wartete auf seine Antwort. Er benetzte seine vom Wetter aufgeplatzten Lippen.

»Wir brauchen einfach noch ein wenig Zeit … Unser Getreide gedeiht gut. Sobald die Ernte eingefahren ist … könnten wir unseren angemessenen Teil beisteuern für den … für den…«

»Den Neubeginn.«

»Genau, Herrin«, sagte er unter heftigem Nicken, »den Neubeginn.« Daraufhin senkte sich sein Blick wieder auf den Staub zu seinen Füßen, und sie setzte ihren Weg an der Reihe entlang fort.

Eigentlich war nicht die Kollekte ihre Aufgabe, sondern die Einschüchterung.

Der Augenblick war gekommen.

Ein Mädchen, das unverwandt zu Nicci hochgesehen hatte, versperrte ihr den Weg und lenkte sie von ihrem Vorhaben ab. Die großen, dunklen Augen des Mädchens blinzelten in unschuldigem Staunen. Alles war neu für sie, und sie war begierig, alles in sich aufzunehmen. In ihren Augen leuchtete jene seltene, zerbrechliche und höchst vergängliche Eigenschaft: eine arglose Sicht der Welt, die noch unberührt war von Schmerz, Verlust und Boshaftigkeit.

Nicci nahm das Kinn des jungen Mädchens in ihre Hand und schaute ihr tief in ihre wissbegierigen Augen.

In einer ihrer frühesten Erinnerungen hatte sich Niccis Mutter ebenso über sie gebeugt, ihr Kinn in der Hand, und auf sie herabgeblickt. Auch Niccis Mutter hatte die Gabe besessen. Sie behauptete, die Gabe sei sowohl ein Fluch als auch eine Prüfung. Ein Fluch, weil sie ihr Fähigkeiten bescherte, die andere nicht besaßen, und ein Test, weil man an ihr erkannte, ob man seine Überlegenheit zu Unrecht ausspielte. Niccis Mutter hatte so gut wie nie von ihrer Gabe Gebrauch gemacht. Diener verrichteten die Arbeit, sie verbrachte die meiste Zeit in der Geborgenheit ihres Freundeskreises, wo sie sich höheren Zielen widmete.