Kahlan legte der Schwester eine Hand auf den Arm. »Es ist spät. Warum geht Ihr nicht ein wenig schlafen, Schwester?«
Schwester Dulcinia erklärte sich lächelnd einverstanden und erhob sich dann vor Anstrengung stöhnend in dem niedrigen Zelt. In der Ferne, auf der anderen Seite des Feldlagers, konnte Kahlan Gadis schauderhafte Schreie hören.
Kahlan strich Holly das Haar aus der Stirn und gab ihr auf die Stelle einen Kuss. »Wie geht es dir, mein Kleines?«
»Ach, es war fürchterlich, Mutter Konfessor. Zauberer Warren wurde verletzt. Ich habe es selbst gesehen.«
Kahlan nahm sie in die Arme, als sie abermals zu weinen anfing. »Ich weiß. Ich weiß.«
»Ist er wieder gesund? Ist er geheilt, so wie man mich geheilt hat?«
Kahlan legte ihr die Hand auf ihre kleine Wange und wischte ihr mit dem Daumen eine Träne ab. »Es tut mir Leid, Holly, aber Warren ist gestorben.«
»Er hätte nicht versuchen dürfen, mich zu retten. Ich bin schuld, dass er tot ist!«, schluchzte Holly.
»Nein«, versuchte Kahlan sie zu besänftigen. »So war das ganz und gar nicht. Warren hat sein Leben für uns alle hergegeben. Was er getan hat, tat er aus seiner Liebe zum Leben. Er wollte nicht, dass das Böse frei unter den Menschen umgeht, die er liebt.«
»Meinst du wirklich?«
»Selbstverständlich tue ich das. Behalte ihn für seine Liebe zum Leben im Gedächtnis, und dafür, wie sehr er sich gewünscht hat, dass seine Lieben ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit leben können.«
»Er hat auf seiner Hochzeit mit mir getanzt. Ich fand, er war der bestaussehende Bräutigam, den man sich nur vorstellen kann.«
»Er war wirklich ein sehr gut aussehender Bräutigam«, bestätigte Kahlan lächelnd, als sie sich daran erinnerte. »Er war einer der rechtschaffensten Männer, die ich je kannte, und er hat sein Leben dafür geopfert, unsere Freiheit zu bewahren. Und wir werden sein Opfer würdigen, indem wir unser Leben so erfüllt wie möglich leben.«
Kahlan machte Anstalten, sich zu erheben, aber Holly drückte sie nur umso fester an sich, sodass Kahlan sich neben sie legte. Sie strich Holly über die Stirn und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Werdet Ihr bei mir bleiben, Mutter Konfessor? Bitte?«
»Ein Weilchen noch, Liebes.«
Eng an Kahlan geschmiegt schlief Holly ein. Kahlan weinte bittere Tränen der Verzweiflung über dem schlafenden Mädchen, einem Mädchen, das ein Recht auf ein eigenes Leben hatte. Aber andere trachteten danach, es ihr mit vorgehaltener Klinge zu rauben.
Nachdem sie endlich einen Entschluss gefasst hatte, was sie tun musste, schlüpfte Kahlan lautlos aus dem Zelt und ging ihre Sachen packen.
Es wurde gerade hell, als Kahlan aus ihrem Zelt hervorkam, ihr Bettzeug, die Satteltaschen, das d’Haranische Schwert, das Schwert der Wahrheit, die Lederrüstung und den Rucksack mit ihren übrigen Sachen in den Händen. Seele lag sicher eingewickelt in ihrem Schlafzeug.
Gerade setzte ein leichter Schneefall ein, so als wollte er dem stillen Lager verkünden, dass der Winter in den nördlichen Midlands angekommen sei.
Alles schien sich dem Ende zuzuneigen. Es war nicht allein Warrens Tod, der ihr diese Gewissheit gab, eher noch die Vergeblichkeit, zu dessen Symbol er geworden war. Sie vermochte sich nicht länger selbst zu täuschen: Die Wahrheit war die Wahrheit, Richard hatte Recht.
Alles würde an die Imperiale Ordnung fallen. Früher oder später würde man sie gefangen nehmen und töten, zusammen mit all den Menschen, die an ihrer Seite kämpften. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die gesamte Neue Welt unterjocht haben würden; und ein großer Teil der Midlands befand sich bereits in ihrer Hand. Manche Länder hatten sich freiwillig aufgegeben. Es war unmöglich, einer Streitmacht von ihren überwältigenden Ausmaßen, mit ihren erschreckenden Drohungen oder ihren verlockenden Versprechungen zu widerstehen.
Das hatte sogar Warren mit seinen letzen Worten bis zu einem gewissen Grad bestätigt: Richard hatte Recht.
Sie hatte geglaubt, etwas bewirken zu können, sie hatte geglaubt, die heranstürmenden Horden zurücktreiben zu können – falls nötig, allein kraft ihres Willens. Doch das war nichts als Hochmut ihrerseits gewesen. Die Streitkräfte des Friedens waren zum Untergang verdammt.
Viele Menschen in den gefallenen Ländern hatten dem Orden der Imperialen Ordnung Glauben geschenkt – um den Preis ihrer Freiheit.
Was blieb ihr noch? Flucht. Rückzug. Schreckensherrschaft. Tod.
Im Grunde hatte sie nichts mehr zu verlieren. Längst war nahezu alles verloren oder würde es zumindest bald sein. Solange sie noch am Leben war, würde sie Gebrauch davon machen.
Sie würde bis in das Herz der Imperialen Ordnung vordringen.
»Was tut Ihr da?«
Kahlan wirbelte herum und sah, wie Cara sie stirnrunzelnd musterte.
»Cara, ich … ich gehe fort.«
Cara nickte einmal knapp. »Gut. Ich denke auch, es ist an der Zeit. Ich werde nicht lange brauchen, um meine Sachen zusammenzupacken. Holt Ihr die Pferde, dann treffe ich Euch…«
»Nein. Ich gehe allein fort. Ihr werdet hier bleiben.«
Cara strich sich über den langen blonden Zopf, der vorne über ihre Schulter hing. »Warum wollt Ihr fortgehen?«
»Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun – ich kann nichts mehr bewirken. Ich werde mein Schwert ins Herz des Ordens stoßen: in Bruder Narev und seine Jünger. Das ist meine einzige Möglichkeit, mich gegen sie zur Wehr zu setzen.«
Cara lächelte. »Und Ihr glaubt wirklich, ich will hier zurückbleiben?«
»Ihr werdet hier bleiben, wo Ihr hingehört … zu Benjamin.«
»Tut mir Leid, Mutter Konfessor«, erwiderte Cara liebevoll, »aber einen solchen Befehl kann ich unmöglich befolgen. Ich bin eine Mord-Sith. Ich habe bei meinem Leben geschworen, Lord Rahl zu beschützen, und ich habe Lord Rahl versprochen, Euch zu beschützen – und nicht, hier zu bleiben und mit Benjamin herumzuknutschen.«
»Cara, ich möchte, dass Ihr hier bleibt…«
»Mein Leben gehört mir. Wenn dies das Ende ist und nichts weiter folgen soll, dann möchte ich mit dem Rest meines Lebens das tun, was immer ich tun will. Ich muss mein Leben selbst in die Hand nehmen, das könnt Ihr mir nicht abnehmen. Ich komme mit, und das ist mein letztes Wort.«
Kahlan konnte es Cara an den Augen ablesen. Sie glaubte nicht, dass sie Cara jemals so gefühlsgeladen über ihre Wünsche hatte sprechen hören. Es war in der Tat ihr Leben, zumal Cara wusste, wohin es Kahlan zog. Ginge Kahlan ohne sie fort, würde Cara ihr einfach folgen. Eine Mord-Sith zum Befolgen von Befehlen zu bewegen – das war oft schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten.
»Ihr habt Recht, Cara; es ist Euer Leben. Aber sobald wir in die Alte Welt gelangen, werdet Ihr Euch anders kleiden müssen, um zu verbergen, wer Ihr seid. Ein roter Lederanzug wäre in der Alten Welt unser Ende.«
»Ich werde tun, was immer ich tun muss, um Euch und Lord Rahl zu beschützen.«
Endlich konnte Kahlan sich ein Lächeln abringen. »Das glaube ich Euch, Cara.«
Cara gelang dies jedoch nicht, woraufhin auch Kahlans Lächeln erlosch.
»Es tut mir Leid, dass ich versucht habe, ohne Euch fortzugehen, Cara. Ich hätte es nicht auf diese Weise tun sollen. Ihr seid eine Schwester des Strafers, ich hätte mit Euch darüber sprechen sollen. Das wäre die richtige Art gewesen, jemanden zu behandeln, den man respektiert.«
Schließlich lächelte auch Cara. »Endlich kommt Ihr zur Vernunft.«
»Es ist möglich, dass wir nicht lebend wiederkommen.«
Cara zuckte mit den Achseln. »Glaubt Ihr denn, wir könnten unseres Lebens froh werden, wenn wir hier blieben? Ich denke, wenn wir bleiben, erwartet uns der sichere Tod.«
Kahlan nickte. »Genau das denke ich auch. Deswegen muss ich fort.«
»Ich hatte nicht die Absicht, mit Euch zu streiten.«
Kahlan blickte hinaus in das Schneetreiben. Vor dem letzten Wintereinbruch hatten sie und Cara gerade noch rechtzeitig fliehen können.
Kahlan wappnete sich, bevor sie die Frage stellte: »Glaubt Ihr wirklich, dass Richard noch lebt, Cara?«