»Selbstverständlich lebt Lord Rahl noch.« Cara hielt ihren Strafer in die Höhe und ließ ihn durch die Finger rollen. »Habt Ihr schon vergessen?«
Und dann fiel es ihr wieder ein: Der Strafer funktionierte nur, wenn der Lord Rahl, dem sie verschworen war, noch lebte.
Kahlan übergab Cara einen Teil ihrer Last. »Gadi?«
»Er starb, wie Verna es gewünscht hat. Sie hat bei ihm keine Gnade walten lassen.«
»Gut. Gnade gegenüber den Schuldigen ist Verrat an den Unschuldigen.«
Es war kurz nach dem Hellwerden, als Kahlan bei Zedds Zelt anlangte. Cara war die Pferde holen und Vorräte besorgen gegangen.
Auf ihr Rufen hin bat Zedd Kahlan einzutreten. Er erhob sich von der Bank, auf der er neben Adie, der alten Hexenmeisterin, saß.
»Kahlan. Was gibt es?«
»Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«
Zedds Augen war keinerlei Überraschung anzumerken. »Warum bleibst du nicht und ruhst dich etwas aus? Und brichst erst morgen auf?«
»Es gibt kein Morgen mehr. Der Winter hat uns wieder einmal eingeholt. Wenn ich tun will, was ich tun muss, darf ich keinen Tag mehr vergeuden.«
Zedd fasste sie sachte bei den Schultern. »Warren wollte dich unbedingt sehen, Kahlan. Er hatte das Gefühl, dir sagen zu müssen, dass Richard Recht hat. Es bedeutete ihm viel, dass du das weißt. Richard hat uns erklärt, dass du das Herz des Ordens nicht angreifen darfst, bevor sich die Menschen ihm bewiesen haben, da sonst alles verloren wäre; das ist heute noch unwahrscheinlicher als an dem Tag, als er es sagte.«
»Vielleicht wollte Warren aber auch sagen, dass Richard Recht hat und wir die Neue Welt ohnehin an die Imperiale Ordnung verlieren werden, weshalb sollten wir dann noch hier ausharren? Vielleicht war es Warrens Art, mir zu sagen, dass ich Richard aufsuchen soll, bevor er oder ich sterben und es für jeden Versuch zu spät ist.«
»Und Nicci?«
»Das werde ich herausfinden, sobald ich dort eintreffe.«
»Aber du kannst doch unmöglich hoffen…«
»Was bleibt mir denn sonst noch, Zedd? Soll ich der Eroberung der Midlands tatenlos zusehen? Soll es mein größter Wunsch sein, den Rest meiner Tage auf der Flucht zu verbringen oder als Einsiedlerin zu leben, die sich jeden Tag vor dem Zugriff der Imperialen Ordnung verstecken muss?
Selbst wenn Warren es nicht gesagt hätte – und so sehr ich mir auch wünsche, es wäre anders –, mittlerweile ist mir klar geworden, dass Richard Recht hat. Die Imperiale Ordnung wird nur diesen einen Winter über festsitzen, während wir den Menschen helfen, Aydindril zu verlassen. Im Frühjahr wird der Feind in Massen in meine Stadt einfallen, um anschließend seine Hände nach D’Hara auszustrecken. Es wird keinen Ort mehr geben, wo man Zuflucht finden kann. Eine Zeit lang können die Menschen zwar fliehen, letztendlich aber wird die Imperiale Ordnung sie unterjochen.
Ich habe keine Zukunft mehr. Richard hatte Recht. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, den Rest meiner Tage für mich und Richard zu leben. Etwas anderes bleibt mir nicht mehr, Zedd.«
Ihm traten Tränen in die Augen. »Ich werde dich so vermissen. Du hast die guten Erinnerungen an meine Tochter zurückgebracht und mir so viele gute Zeiten beschert.«
Kahlan schlang ihre Arme um ihn. »Ach Zedd, ich liebe dich.«
Dann konnte sie ihre Tränen selber nicht mehr zurückhalten. Sie war alles, was er noch hatte, und jetzt würde er auch sie verlieren.
Nein – das stimmte nicht. Kahlan löste sich von ihm.
»Auch für dich ist der Zeitpunkt gekommen, von hier fortzugehen, Zedd. Du musst die Burg aufsuchen und sie beschützen.«
Er nickte unter größtem Widerwillen und mit tiefer Traurigkeit. »Ich weiß.«
Kahlan kniete vor der Hexenmeisterin nieder und ergriff ihre Hand. »Adie, wirst du ihn begleiten und ihm Gesellschaft leisten?«
Ein zauberhaftes Lächeln ging über das verwitterte Gesicht der alten Frau. »Nun, ich…« Sie schaute hoch. »Zedd?«
Zedd zog ein mürrisches Gesicht. »Verdammt, jetzt hast du mir die Überraschung verdorben, sie einzuladen.«
Kahlan versetzte ihm einen spielerischen Schlag gegen das Bein. »Hör auf, in Anwesenheit von Damen herumzufluchen – und sei nicht immer so griesgrämig. Ich wüsste einfach gerne, dass du dort oben nicht allein bist.«
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
»Selbstverständlich wird Adie mich auf die Burg begleiten.«
Jetzt war es an Adie, ein finsteres Gesicht zu ziehen. »Woher willst du das wissen, alter Mann? Du hast mich nie gefragt, ob ich einverstanden bin. Also, ich hätte nicht übel Lust…«
»Bitte, hört doch auf«, unterbrach Kahlan. »Alle beide. Die Sache ist zu wichtig, um sich deswegen zu streiten.«
»Ich kann mich doch wohl streiten, wenn mir danach ist«, protestierte Zedd.
»Das stimmt.« Adie drohte mit einem dürren Finger. »Wir sind alt genug, um uns zu streiten, wann immer wir wollen.«
Kahlan musste trotz ihrer Tränen lächeln. »Natürlich dürft ihr das. Es ist nur so, dass nach der Geschichte mit Warren … es erinnert mich einfach daran, wie ungern ich es sehe, wenn Menschen ihr Leben für Dinge verschwenden, die nicht wirklich wichtig sind.«
Jetzt wurde Zedds Miene wirklich ärgerlich. »Wenn du nicht weißt, wie wichtig Streiten ist, dann hast du noch einiges zu lernen, meine Liebe.«
»Das stimmt«, bestätigte Adie. »Streiten hält die Sinne wach. Wenn man alt wird, ist es wichtig, dass die Sinne wach bleiben.«
»Adie hat vollkommen Recht«, meinte Zedd. »Also, ich denke…«
Kahlan brachte ihn mit einer Umarmung zum Schweigen, der auch Adie sich anschloss.
»Bist du dir dessen wirklich sicher, meine Liebe?«, fragte Zedd, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.
»Bin ich. Ich werde mein Schwert in den Leib der Imperialen Ordnung bohren.«
Nickend zog Zedd ihren Kopf heran und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Wenn du unbedingt fortgehen willst, dann reite schneller und schlage fester zu.«
»Genau das war auch mein Gedanke«, sagte Cara, die soeben ins Zelt trat.
Kahlan fand, dass Caras blaue Augen ein wenig feuchter aussahen als sonst. »Geht es Euch gut, Cara?«
Cara runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ach, nichts«, erwiderte Kahlan.
»General Meiffert hat uns die sechs schnellsten Pferde besorgt, die er auftreiben konnte.« Die Aussicht ließ Cara freudig strahlen. »Wir werden frische Tiere mitführen und sehr schnell vorankommen. All unsere Vorräte sind aufgeladen.
Wenn wir jetzt sofort aufbrechen, sollten wir dem Winter knapp entgehen können. Wir haben die Karte, daher können wir uns von den Marschrouten, die die Ordenstruppen benutzen, und den am dichtesten besiedelten Gebieten fern halten. Dort unten gibt es gute Straßen, und das Gelände ist nicht schwierig. Wenn wir scharf reiten, können wir es meiner Meinung nach in wenigen Wochen schaffen. Längstenfalls in einem Monat.«
Zedds Gesicht legte sich besorgt in Falten. »Aber der Orden kontrolliert weite Teile der südlichen Midlands. Das ist jetzt gefährliches Gebiet.«
»Ich weiß einen besseren Weg.« Cara ließ ein listiges Lächeln sehen. »Wir werden dort entlangreiten, wo ich das Gelände kenne – durch D’Hara. Wir werden von hier aus nach Osten aufbrechen, das Gebirge überqueren und anschließend in südlicher Richtung quer durch D’Hara reiten – durch größtenteils völlig offenes Gelände, wo wir schnell vorankommen –, dann durch die Azrith-Ebene, um schließlich weit unten im Süden dem Lauf des Kern zu folgen. Sobald das Flusstal das Gebirge verlässt, biegen wir nach Südosten ab, in das Herz der Alten Welt.«
Nickend bekundete Zedd sein Einverständnis mit dem Plan. Kahlan legte liebevoll ihre Finger um den dürren Arm des alten Zauberers.
»Wann wirst du zur Burg hinaufgehen?«
»Adie und ich werden noch heute früh aufbrechen. Ich halte es für das Beste, wenn wir hier nicht länger unsere Zeit vergeuden. Wir werden die Angelegenheiten der Armee noch heute mit den Offizieren und den Schwestern klären. Ich denke, sobald die Bevölkerung Aydindril verlassen hat und die Schneefälle rasch genug zunehmen, um zu gewährleisten, dass die Imperiale Ordnung sich vor dem Frühling nicht von der Stelle rühren kann, sollten unsere Männer mit dem heimlichen Abmarsch von hier beginnen, das Gebirge überqueren und sich in das sichere D’Hara begeben. Im Winter werden sie nur langsam vorankommen, aber da sie unterwegs nicht zu kämpfen brauchen, wird es nicht so mühsam werden, wie es sonst der Fall wäre.«