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Es war Victor. Richard seufzte, denn jetzt musste er wohl oder übel seine Arbeit unterbrechen.

Richard zog des rote um seinen Hals geschlungene Tuch von Nase und Mund, das verhinderte, dass er all den Marmorstaub einatmete. Es war ein kleiner Trick, von dem Victor ihm erzählt hatte und den die Marmorbildhauer aus seiner Heimat Cavatura anwendeten.

»Komme gleich.«

Richard stieg von der Kante des Sockels herunter, aus dem er die Beine in Wadenmitte herausgemeißelt hatte. Als er seinen Rücken streckte, merkte er, wie sehr dieser von der ständig gebückten Haltung und dem Schlafmangel schmerzte. Er holte die Zelttuchplane und schüttelte den Staub heraus.

Unmittelbar bevor er die Abdeckung über die Statue warf, nahm er die Figuren in ihrer Gesamtheit auf. Fußboden, Regale und Werkzeug waren mit einer feinen Schicht aus Marmorstaub bedeckt. Der Marmor selbst aber sprang einem in dem von oben einfallenden Licht vor der dunklen Wand in seiner Pracht geradezu ins Auge.

Richard warf die Plane über die unvollendeten Figuren, dann ging er die Tür öffnen.

»Du siehst aus wie ein Gespenst«, verkündete Victor, ein schiefes Grinsen im Gesicht.

Richard klopfte sich ab. »Ich habe die Zeit aus den Augen verloren.«

»Hast du gestern Abend mal einen Blick in die Werkstatt geworfen?«

»In die Werkstatt? Nein, warum?«

Victors Grinsen kehrte zurück, noch breiter diesmal. »Gestern hat Priska das Bronzezifferblatt geliefert. Ishaq hat es gebracht. Komm, sieh es dir an.«

Das Zifferblatt lag, in mehrere Einzelteile zerlegt, im Lagerraum auf der anderen Seite der Werkstatt. Es war zu groß, als dass Priska es in einem Stück hätte gießen können, daher hatte er mehrere Teile angefertigt, die Victor zusammensetzen und montieren sollte. Der Sockel für den Halbring, der als Zifferblatt dienen würde, war massiv. Wissend, dass er für eine Statue bestimmt war, die Richard schuf, hatte Priska eine Arbeit abgeliefert, auf die er stolz sein konnte.

»Es ist wunderschön«, meinte Richard.

»Nicht wahr? Ich habe auch früher schon ausgezeichnete Arbeiten von ihm gesehen, aber diesmal hat Priska sich selbst übertroffen.«

Victor ging in die Hocke und strich mit den Fingern über die eigenartigen, mit schwarzer Farbe ausgefüllten Symbole. »Priska meinte, einst, vor langer Zeit, habe in seiner Heimatstadt Altur’Rang Freiheit geherrscht, die sie aber, wie so viele andere Städte auch, verloren habe. Als Kompliment an jene Zeit hat er es mit Symbolen in seiner Muttersprache versehen. Bruder Narev hat es bereits gesehen und war erfreut, da er sie für eine Respektsbezeugung an den Kaiser hielt, der ebenfalls aus Altur’Rang stammt.«

Richard seufzte. »Priskas Zunge ist ebenso aalglatt und geschliffen wie seine Gussstücke.«

»Möchtest du ein Stück Lardo mit mir essen?«, fragte Victor, sich erhebend.

Die Sonne war längst aufgegangen. Richard streckte seinen Nacken und blickte hinunter zur Baustelle.

»Besser nicht. Ich muss zur Arbeit.« Richard ging in die Hocke und hob eine Seite des Sockels an. »Aber lass mich dir vorher noch zeigen, wo dies hinkommen soll.«

Victor schnappte sich das andere Ende, woraufhin sie den Bronzeguss gemeinsam um die Werkstatt herumtrugen. Als Richard die Flügeltür aufstieß, sah Victor die Statue zum allerersten Mal, wenn auch noch verborgen unter der Plane, die nur die Rundungen der beiden Köpfe erkennen ließ. Dennoch weideten sich Victors Augen an ihr, Augen, denen deutlich anzusehen war, wie seine lebhafte Fantasie manches von dem, was unsichtbar blieb, mit seinen hoffnungsvollsten Erwartungen ergänzte.

»Du kommst gut voran mit deiner Statue?« Victor stieß Richard mit dem Ellbogen an. »Wird sie eine Schönheit?«

Ein freudiges Lächeln überkam Richard. »Nun, Victor, du wirst es früh genug mit eigenen Augen sehen. Die Weihung ist ja nur noch wenige Wochen entfernt, und bis dahin werde ich fertig sein. Sie wird unsere Herzen mit Musik erfüllen … bis sie mich umbringen, jedenfalls.«

Victor tat dieses Gerede mit einer heftigen Handbewegung ab. »Ich hoffe doch, sie werden zu schätzen wissen, endlich wieder so viel Schönheit zu Gesicht zu bekommen, noch dazu in ihrem eigenen Palast.«

Richard gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. In diesem Augenblick fiel es ihm ein, und er griff in eine Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und reichte es dem Schmied.

»Priska sollte auf der Rückseite des Zifferblatts keinen Text anbringen, weil ich nicht wollte, dass die falschen Leute ihn zu Gesicht bekommen. Ich möchte dich bitten, diese Worte in die rückwärtige Fläche zu gravieren, ungefähr in derselben Höhe wie die Symbole auf der Vorderseite.«

Victor nahm das Blatt entgegen und faltete es auseinander. Sein Grinsen erlosch, er hob den Kopf und sah Richard mit unverhohlener Überraschung an.

»Das ist Verrat.«

Richard zuckte mit den Achseln. »Sie können mich nur einmal umbringen.«

»Aber davor können sie dich lange foltern. Zumal sie über äußerst unangenehme Methoden verfügen, um Menschen umzubringen, Richard. Hast du je gesehen, wie ein Mann im Himmel begraben wird, während er noch lebt, aus tausenden von kleinen Wunden blutet und seine Hände gefesselt sind, damit die Geier sich an seinem lebendigen Fleisch weiden können?«

»Der Orden hat mir schon lange die Hände gebunden, Victor. Wenn ich dort unten arbeite und um mich herum nichts als Tod sehe, blute ich aus tausend Wunden. Die Geier des Ordens weiden sich längst an meinem Fleisch.« Entschlossen hielt Richard Victors Blick stand. »Wirst du es tun?«

Victor schaute abermals auf das Blatt Papier. Er atmete tief durch und langsam wieder aus, während er den Zettel in seiner Hand betrachtete. »Diese Worte mögen Verrat sein, aber sie gefallen mir. Ich werde es tun.«

Richard versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter und bedachte ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln. »So ist es recht. Und jetzt pass auf, wo der Sockel angebracht werden soll.«

Richard hob die Plane gerade so weit an, dass man den Sockel sehen konnte. »Hier habe ich dir eine ebene Fläche gemeißelt, die genau im richtigen Winkel geneigt ist. Da ich nicht wusste, wo sich die Befestigungslöcher im Guss befinden werden, habe ich es dir überlassen, die Löcher zu bohren und für die Bolzen mit Blei zu füllen. Sobald du den Sockel angebracht hast, kann ich den Winkel der Fassung ausrechnen, die ich für den Zeiger bohren muss.«

Victor nickte. »Die Stange für den Sonnenuhrzeiger wird bald fertig sein. Ich werde dir für sie eine Bohrspitze in der passenden Größe anfertigen.«

»Gut. Und dazu eine Rundraspel für den Feinschliff der Fassung?«

»Sollst du bekommen«, sagte Victor, während sich beide erhoben.

Er deutete mit der Hand auf die abgedeckte Statue. »Du vertraust mir, dass ich keinen Blick riskiere, während du fort bist, um deine hässlichen Figuren zu meißeln?«

Richard lachte amüsiert. »Ich weiß, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als die Erhabenheit dieser Statue zu sehen, wenn sie erst einmal fertiggestellt ist, Victor. Dieses Erlebnis würdest du dir um keinen Preis nehmen lassen.«

Victor stimmte sein polterndes, aus dem Bauch kommendes Lachen an. »Vermutlich hast du Recht. Komm nach der Arbeit vorbei, dann essen wir zusammen ein Stück Lardo und unterhalten uns über in Stein gemeißelte Schönheit und über frühere Zeiten.«

Richard bekam kaum mit, was Victor sagte. Er starrte auf den Gegenstand, der ihm mittlerweile so vertraut war. Seinen Blicken war er verborgen, aber seiner Seele konnte er sich nicht entziehen.

Er war so weit, dass er mit dem Vorgang des Polierens beginnen konnte, um nacktes Fleisch in Stein wiederzugeben.

Den Kopf gesenkt, vor dem eisigen winterlichen Wind durch ihren Schal geschützt, eilte Nicci durch die schmale, enge Gasse. Ein ihr entgegenkommender Mann rempelte gegen ihre Schulter, nicht weil er es eilig hatte, sondern weil er einfach nicht darauf zu achten schien, wohin er lief. Nicci schleuderte einen zornentbrannten Blick in Richtung seiner leeren Augen, doch ihr wütender Blick versank in einem bodenlosen Abgrund aus Gleichgültigkeit.