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Den Beutel mit Sonnenblumenkernen fester an ihren Körper gedrückt, setzte sie ihren Weg durch die morastige Gasse fort. Um nicht von anderen entgegenkommenden Passanten angerempelt zu werden, hielt sie sich dicht an die hölzernen Wände der Gebäude. Gegen die kurze Kälteperiode in wärmende Kleider gehüllte Menschen schoben sich auf der Suche nach einem Zimmer, nach etwas zu essen, nach Kleidung oder Arbeit durch die enge Gasse auf die dahinter liegende Straße. Jenseits der Gasse konnte sie Männer sehen, die, an die Häuserwände der gegenüberliegenden Straßenseite gelehnt, auf dem Boden hockten und leeren Blicks verfolgten, wie Wagen durch die Straßen ratterten, um Nachschub für den Palast des Kaisers zur Baustelle zu liefern.

Nicci war auf dem Weg zum Brotladen. Sie wollte Butter für Richards Brot besorgen. Er würde zum Abendessen nach Hause kommen – das hatte er fest versprochen. Sie wollte ihm eine ordentliche Mahlzeit vorsetzen, er musste schließlich essen. Er hatte ein wenig abgenommen, auch wenn dies lediglich dazu beitrug, dass sich sein muskulöser Körperbau auf verwirrende Weise noch deutlicher abzeichnete. Er glich einer Fleisch gewordenen Statue – ganz ähnlich den Statuen, die sie früher, vor langer Zeit, stets gesehen hatte.

Sie erinnerte sich, wie die Dienerinnen ihrer Mutter, als sie noch klein war, kleine Kuchen aus Sonnenblumenmehl gebacken hatten. Glücklicherweise hatte sie genug davon ergattern können, um ihm ein paar dieser Kuchen zu backen, und vielleicht würde sie sogar Butter bekommen, um sie damit zu bestreichen.

Niccis Besorgnis wuchs zusehends. Die Weihung sollte in wenigen Tagen stattfinden. Richard behauptete, seine Statue würde fertig sein; er schien diesbezüglich vollkommen ruhig, als hätte er so etwas wie seinen inneren Frieden gefunden.

Fast wirkte er wie ein Mann, der sich mit seiner bevorstehenden Hinrichtung abgefunden hatte.

Wann immer Richard mit ihr sprach, schien er trotz der Unterhaltung mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein, und in seinen Augen war jene Eigenschaft abzulesen, die sie so schätzte. In der Trostlosigkeit des Lebens, im Elend des Daseins, war dies die einzige Hoffnung, die ihr noch blieb. Die Menschen um sie herum warteten bloß noch auf den Tod. Allein in den Augen ihres Vaters, als sie noch klein war, und deutlicher noch jetzt in Richards Augen vermochte sie einen Beweis dafür zu erkennen, dass all dies die Mühe lohnte, dass das Dasein einen Sinn hatte.

Das leise Klackern von Kieselsteinen in einer Blechtasse ließ Nicci ihre Schritte bremsen und schließlich ganz stehen bleiben. Das Geräusch war das unverkennbare Rasseln ihrer eigenen Ketten. Ihr Leben lang war sie eine Dienerin der Bedürftigkeit gewesen, und so sehr sie sich auch mühte, hier war sie wieder, die Blechtasse eines armen Bettlers, die noch immer rasselnd um ihre Hilfe bat.

Sie brachte es nicht über sich, sie ihm zu verwehren.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, Richard Butter zu seinem Brot vorsetzen zu können, aber sie besaß nur einen einzigen Silberpfennig, und dieser Bettler hatte nichts. Wenigstens hatte sie ein wenig Brot und ein bisschen Sonnenblumenmehl. Wie konnte sie sich Butter für Richards Brot und Kuchen wünschen, solange dieser arme Schlucker völlig mittellos war?

Sie war sich bewusst, dass sie böse war, weil sie diesen Silberpfennig behalten wollte, jenen Silberpfennig, den Richard im Schweiße seines Angesichts mit harter Arbeit verdient hatte. Sie war böse, weil sie Butter für Richard damit kaufen wollte. Wer war Richard, dass er Butter verdient hatte? Er war kräftig. Er war arbeitsfähig. Warum sollte er mehr bekommen, während andere gar nichts hatten?

Nicci konnte fast sehen, wie ihre Mutter bitter enttäuscht den Kopf schüttelte, weil der Pfennig noch immer in Niccis Hand lag und nicht längst dem Mann aus seiner Not half.

Wie kam es, dass es ihr nie gelang, dem moralischen Vorbild ihrer Mutter gerecht zu werden? Wie kam es, dass es ihr nie gelang, ihre böse Natur zu überwinden?

Langsam drehte Nicci sich herum und ließ den Silberpfennig in den Becher des Bettlers fallen.

Die Menschen machten einen großen Bogen um den Bettler. Ohne ihn wirklich wahrzunehmen, vermieden sie es, in seine Nähe zu geraten, und waren taub für das Rasseln seines Bechers. Wie war es möglich, dass diese Menschen die Lehren des Ordens noch nicht begriffen hatten? Wie brachten sie es nur über sich, den Bedürftigen nicht beizustehen? Immer blieb ihr dies überlassen.

Schließlich schaute sie ihn an und schreckte vor dem Anblick dieses abscheulich aussehenden, in schmutzige Lumpen gehüllten Mannes zurück. Noch weiter zog sie sich zurück, als sie die Läuse durch seinen verfilzten, fettigen Haarwald springen sah. Durch einen Schlitz in den um sein Gesicht gewickelten Lumpen blinzelte er zu ihr hoch.

Das, was sie durch diesen Schlitz erblickte, war es schließlich, das ihr den Atem stocken ließ. Die Narben waren fürchterlich, gewiss, so als wäre sein Fleisch in den Feuern des Hüters selbst verschmort, aber es waren seine Augen, die sie packten, während er sich langsam erhob.

Die verdreckten Finger des Mannes legten sich wie ein Schraubstock um ihren Arm. »Nicci«, zischte er in einer Mischung aus Verdutztheit und Triumph, während er sie an sich zog.

Gefangen im Zugriff seiner kräftigen Finger und seines glühenden Funkelns, war sie unfähig, sich zu bewegen. Sie stand so nah, dass sie sehen konnte, wie seine Läuse auf sie übersprangen.

»Kadar Kardeef.«

»Ihr erkennt mich also wieder? Selbst in diesem Zustand?«

Weiter sagte sie nichts, doch offenbar war ihren Augen anzusehen, dass sie ihn für tot gehalten hatte, denn er beantwortete ihre unausgesprochene Frage.

»Erinnert Ihr Euch noch an das kleine Gör? Um das Ihr Euch scheinbar so fürsorglich gekümmert habt? Sie bedrängte die Bewohner der Stadt, mich zu retten. Sie weigerte sich, mir zu erlauben, über dem Feuer dort zu sterben, wo Ihr mich habt festbinden lassen. Sie hasste Euch so sehr, dass sie fest entschlossen war, mich zu retten. Ganz uneigennützig kümmerte sie sich aufopfernd um mich, um einen ihrer Mitmenschen, genau wie Ihr es den Stadtbewohnern befohlen habt.

Oh, ich wollte sterben. Nie hatte ich geahnt, dass ein Mensch so viele Schmerzen erleiden und trotzdem weiterleben kann. Aber so sehr ich meinen Tod auch herbeisehnte, ich habe überlebt, weil mein Wunsch nach Eurem Tod noch stärker war. Ihr habt mir das angetan. Ich möchte, dass der Hüter seine Fänge in Eure Seele schlägt.«

Nicci betrachtete ruhig seine bizarren Narben. »Und deshalb seid Ihr gekommen und sinnt auf Rache.«

»Nein, nicht deswegen. Sondern dafür, dass Ihr mich habt betteln lassen, als meine Männer es hören konnten. Dafür, dass Ihr zugelassen habt, dass andere Menschen hören, wie ich um mein Leben flehe. Aus diesem Grund haben sie mich gerettet – und aus Hass auf Euch. Dafür trachte ich nach Rache – dafür, dass Ihr mich nicht habt sterben lassen, dass Ihr mich zu diesem Leben als Monster verdammt habt, dem Frauen im Vorübergehen Pfennige in seinen Becher werfen.«

Nicci sah ihn aalglatt lächelnd an. »Nun, Kadar, falls Ihr sterben wollt, den Wunsch kann ich Euch zweifellos erfüllen.«

Er ließ ihren Arm los, als hätte er seine Finger daran verbrannt. Seine Fantasie verlieh ihr Kräfte, die sie nicht besaß.

Er spie sie an.

»Dann tötet mich doch, dreckige Hure. Schlagt mich tot.«

Nicci ließ ihr Handgelenk vorschnellen und brachte ihren Dacra zum Vorschein, eine messerähnliche Waffe, die die Schwestern bei sich trugen. Sobald der zugespitzte Stab in den Körper eines Opfers gebohrt wurde, ganz gleich an welcher Stelle, wurde dieses durch die Entfesselung ihrer Kräfte augenblicklich getötet. Kadar Kardeef wusste nicht, dass sie über keinerlei Kräfte verfügte; aber auch ohne ihre Kraft war der Dacra immer noch eine tödliche Waffe.

Klugerweise wich er einen Schritt zurück; er sehnte sich zwar nach dem Tod, fürchtete sich aber auch vor ihm.

»Warum geht Ihr nicht zu Jagang? Er hätte niemals zugelassen, dass Ihr zum Bettler werdet. Jagang war früher Euer Freund, er hätte sich um Euch gekümmert. Ihr hättet nicht betteln müssen.«