Sie erreichte die Tür, ohne dass sie jemand angesprochen oder auch nur beachtet hätte, und schaute sich in dem gleißenden, dunstigen Nachmittagslicht um. Als sie aber nur Männer sah, die sich ganz ihrer Arbeit widmeten, öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein.
Im Raum war es dunkel; seine Wände waren schwarz, die Statue in seinem Inneren aber wurde von dem durch das Oberlicht in der hohen Decke einfallende Licht gut beleuchtet. Nicci vermied es, die Statue unmittelbar anzusehen, sondern hielt die Augen auf den Boden gerichtet, während sie den mächtigen Monolithen eiligen Schritts umrundete, um die Figur beim allerersten Mal von vorne betrachten zu können.
Nachdem sie ihre Position eingenommen hatte, drehte sie sich klopfenden Herzens um.
Niccis Blick wanderte an den Beinen hinauf, an den Gewändern, den Armen und Leibern der beiden Menschen, bis hinauf zu ihren Gesichtern. Ihr war, als schlösse sich eine gewaltige Faust um ihr Herz, bis dieses nicht mehr schlug.
Es war das, was man in Richards Augen sah, in leuchtend weißem Marmor zum Leben erweckt. Es in seiner endgültigen Gestalt vor sich zu sehen war, als würde man vom Blitz getroffen.
In diesem Augenblick schien sich ihr gesamtes Leben, alles, was ihr jemals widerfahren war, alles, was sie jemals gesehen, gehört oder getan hatte, mit einem einzigen gewaltsamen Aufblitzen in einem Punkt zu vereinen. Angesichts ihrer Schönheit, und mehr noch angesichts der Schönheit dessen, wofür sie stand, entfuhr Nicci ein schmerzgequältes Stöhnen.
Ihr Blick fiel auf den Titel, der dort in den steinernen Sockel gemeißelt stand.
LEBEN
Nicci brach unter Tränen auf dem Boden zusammen, zutiefst beschämt, entsetzt, angewidert und geradezu geblendet von der plötzlichen Erkenntnis.
… und ergriffen von reiner, unverfälschter Freude.
65
Nachdem Richard mit dem feinen weißen Leinenstoff zurückgekehrt war, den er gekauft hatte, um die Statue bis zur Feier am darauf folgenden Tag abzudecken, half er Ishaq und mehreren anderen Männern, die er von der Baustelle unten kannte, mit den Vorbereitungen für das mühselige Vorhaben, den schweren Stein mittels eines Schlittens hinunter auf den Palastvorplatz zu transportieren. Zum Glück hatte es seit einiger Zeit nicht mehr geregnet, deshalb war der Untergrund fest genug.
Ishaq, der sich in diesen Dingen auskannte, hatte eingefettete Rollwalzen aus Holz mitgebracht, die vor die die Holzplattform unter der Statue tragenden schweren Holzkufen gelegt wurden, damit die Pferdegespanne die gewaltige Last leichter über den Boden ziehen konnten. Sobald man die Statue auf den zweiten Satz eingefetteter Rollwalzen gezogen hatte, trugen die Männer die hinten liegen gebliebenen nach vorn, sodass die Statue in wechselnden Schüben vorwärts bewegt wurde.
Der Hang war weiß vom Geröll aus Gesteinsabfall, sodass die Statue beträchtlich weniger wog als noch zu Beginn. Ursprünglich hatte Victor spezielle Karren zum Transport von Gesteinsquadern angemietet, doch die waren jetzt nicht zu verwenden, weil das fertige Stück weder auf die Seite gelegt werden konnte, noch überhaupt eine so grobe Behandlung vertrug.
Unter wildem Gefuchtel mit seiner roten Mütze hatte Ishaq Befehle gebrüllt, Warnungen ausgestoßen und Stoßgebete zum Himmel gesandt, während sie sich langsam voranarbeiteten. Richard wusste, dass die Statue in keinen besseren Händen hätte sein können. Ishaqs nervöse Anspannung schien sich auf die Männer, die ihnen zur Hand gingen, zu übertragen. Sie spürten, dass es um etwas Wichtiges ging, und obwohl die Arbeit schwierig war, schien ihnen die Teilnahme daran mehr Freude zu bereiten als ihre tägliche Plackerei auf der Baustelle. Es dauerte bis in den späten Nachmittag, die Statue über die Strecke von der Werkstatt bis zum Fuß der auf den Vorplatz führenden Treppe zu schleppen.
Männer schaufelten Erde vor den Fuß der Treppe und stampften diese fest, um den Übergang auf die Steigung zu erleichtern. Dann führte man ein Gespann aus zehn Pferden zur Rückseite des Säulengangs. Um den Schlitten über die Stufen nach oben zu ziehen, führte man lange Taue durch die offenen Fenster- und Türöffnungen und band sie anschließend am steinernen Sockel fest. Die restlichen Rollwalzen wurden in den vorderen Winkel der Erdrampe gelegt, um später, wenn die Statue im weiteren Verlauf die Treppe hinaufrückte, weiter oben auf den Stufen platziert zu werden: Zoll um Zoll kletterte die Statue die Stufen hinauf.
Richard konnte kaum hinsehen. Wenn irgendetwas schief ginge, würde sein ganzes Werk nach hinten kippen und zerspringen; der Makel im Gestein würde alles zerstören. Er musste bei sich lächeln, als er merkte, wie töricht es war, sich darum zu sorgen, dass der Beweis seines Verbrechens gegen den Orden vernichtet werden könnte.
Als die Statue schließlich sicher auf dem Vorplatz angekommen war, wurde Sand unter die Plattform gepresst, um ihr Gewicht aufzufangen. Nun, da der Sand die hölzerne Plattform sicher trug, wurden die schweren Rollwalzen entfernt. Dann ließ man die Plattform ohne die Walzen von ihrem Sandhügel heruntergleiten. Von da an war es vergleichsweise einfach, die Statue mit viel Geduld und Behutsamkeit von ihrem hölzernen Unterbau herunter und auf den Vorplatz selbst zu ziehen. Zu guter Letzt stand Marmor auf Marmor. Kolonnen von Männern zogen die befreite Statue an um ihren Sockel befestigten Tauen auf ihren endgültigen Standort in der Platzmitte.
Als es vorbei war, stand Ishaq neben Richard und wischte sich mit seiner roten Mütze über die Stirn. Die gesamte Statue mitsamt Sonnenuhr war mit der weißen, von Stricken gesicherten Leinenplane verhüllt, sodass Ishaq nicht sehen konnte, was sie darstellte. Trotzdem spürte er, dass er etwas Bedeutendes vor sich hatte.
»Wann?«, war alles, was Ishaq fragte.
Richard wusste, was er meinte. »Ich glaube, das weiß ich gar nicht genau. Bruder Narev wird den Palast morgen dem Schöpfer weihen, vor den Augen all der Beamten, die angereist sind, um zu sehen, wofür das Geld, das sie von den Menschen ergaunert haben, ausgegeben wurde. Ich schätze, dass die Beamten morgen gemeinsam mit allen anderen, die der Zeremonie beiwohnen, sowohl die Statue als auch den Palast gezeigt bekommen sollen – ich glaube nicht, dass eine gesonderte Enthüllung oder dergleichen geplant ist.«
Nach allem, was Richard gehört hatte, war die Zeremonie für die Ordensbrüder eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Der Aderlass, verursacht durch die Kosten für den Palast zusätzlich zu den Kriegskosten, verlangte nach einer Rechtfertigung gegenüber den Menschen, die diesen Preis nicht nur mit ihrem Schweiß, sondern auch mit ihrem Blut bezahlt hatten. Die Bruderschaft des Ordens herrschte durch die Imperiale Ordnung, notwendigerweise mit Unterstützung von brutalen Rohlingen, deren Vorgehen ihre moralische Billigung fand. Zwar hatten diese Rohlinge mühelos all jene physisch ausgemerzt, die aufbegehrt hatten, doch die Ordensbrüder wollten auch die Ideen ausmerzen, für die diese Revolte stand, bevor jene Schule machen konnten, denn besagtes Gedankengut bedeutete für sie die größte Gefahr.
Zu diesem Zweck war es erforderlich, auf die Beamten, die Günstlinge der Tyrannei, begeisternd einzuwirken. Richard vermutete, dass man der großen Schar von Beamten des Ordens, in Anbetracht der tausende von Fuß langen Steinmauern mit Darstellungen der Verdorbenheit der menschlichen Natur, geführte Besichtigungen zu sämtlichen Schwächen des Menschen anbieten und sie dadurch in die Pflicht nehmen würde, das bereits mit Waffengewalt konfiszierte Geld auszuhändigen – einer Gewalt, deren sie sich mit moralischer Billigung der Ordensbrüder durch die Bruderschaft der Imperialen Ordnung bedienten. Diesen kleinen Beamten gestand man für ihre Verdienste um den Orden ein Stück vom Kuchen zu, zweifellos aber beabsichtigten die Brüder ihnen, notfalls mit Gewalt, alle weiterführenden Ideen auszutreiben.