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Unter der Führung der Brüder herrschte das Ordenskollektiv – jeder andere alleinige Herrscher auch – letzten Endes ausschließlich über die Unterwürfigkeit der Menschen, die entweder mittels moralischer Einschüchterung oder Androhung körperlicher Gewalt oder beidem kontrolliert wurden. Tyrannei verlangte, dass man sich unablässig um sie kümmerte, damit die Illusion gerechtfertigter Machtbefugnis nicht im Licht ihres unbarmherzigen Tributs verblasste und diese Rohlinge nicht von der ihnen zahlenmäßig weit überlegenen Bevölkerung überwältigt wurden.

Aus diesem Grund war Richard auch klar gewesen, dass er nicht zum Anführer taugte: Er konnte die Menschen nicht zu der Erkenntnis zwingen, dass aufgrund des hohen Wertes ihres Lebens Zwang verkehrt war, wohingegen der Orden sie durchaus zum Gehorsam zwingen konnte, indem er ihnen erst einmal einredete, ihr Leben sei wertlos. Freie Menschen ließen sich nicht beherrschen; man musste den Wert der Freiheit erst erkennen, bevor man sie fordern konnte.

»Nach allem, was ich gehört habe, soll es ein Großereignis werden«, sagte Ishaq. »Die Menschen kommen von überall her zur Weihung des Palastes des Kaisers. Die Stadt ist voller Besucher von nah und fern.«

Richard sah sich auf der Baustelle um, während die Arbeiter schweren Schritts wieder an ihre gewohnte Arbeit gingen.

»Ich bin überrascht, dass keiner der Beamten vorbeigeschaut hat, um den Palast vorab zu besichtigen.«

Ishaq schwenkte abtuend seine Mütze. »Sie sind alle auf der Versammlung der Bruderschaft des Ordens, im Stadtzentrum von Altur’Rang. Ganz große Sache. Es gibt zu essen und zu trinken, dazu Ansprachen von den Ordensbrüdern. Du weißt, wie beliebt Versammlungen beim Orden sind. Verdammt langweilig, könnte ich mir vorstellen. Nach allem, was ich von diesen Veranstaltungen weiß, wird man die Beamten damit auf Trab halten, dass man sie über die Nöte des Ordens sowie ihre Pflicht unterrichtet, die Menschen dazu zu bewegen, für diesen Zweck Opfer zu bringen. Die Brüder werden sie sämtlich straff am Zügel halten.«

Das bedeutete, dass die Ordensbrüder alle beschäftigt sein würden – zu beschäftigt, um für eine so unbedeutende Aufgabe wie die Überprüfung einer Statue, die einer ihrer Sklaven geschaffen hatte, zur Baustelle rauszukommen. Richards Statue war im großen Plan nicht von Belang. Sie bildete lediglich den Ausgangspunkt für den eindrucksvollen Rundgang vorbei an den meilenlangen Mauern, auf denen in ausgedehnten Szenen das große Anliegen des Ordens dargestellt wurde, so wie es die Ordensbrüder – unter Bruder Narevs Führung – vorschrieben.

Wenn die Beamten und Brüder zu beschäftigt waren, um an diesem Tag zu kommen – die Bewohner der Stadt waren es nicht. Vermutlich würden die meisten von ihnen den Feierlichkeiten des nächsten Tages beiwohnen, davor aber wollten sie sich, ganz für sich, selbst einen Eindruck von diesem Ort verschaffen, ohne die langweiligen Reden, die die Zeremonie in die Länge ziehen würden. Richard sah viele dieser Menschen von einer Szene auf den Mauern zur nächsten schreiten, die Gesichter erfüllt von der Trostlosigkeit dessen, was sie dort geboten bekamen.

Gardisten hielten die Menschen auf respektvolle Distanz und fern von dem Labyrinth der Räumlichkeiten und Korridore, die mittlerweile von Geschossdecken und, an einigen Stellen, Dächern nach oben hin abgeschlossen waren. Jetzt, da die Statue auf ihrem Platz stand, rückten die Gardisten an, um den Zugang zu dem Vorplatz freizuräumen.

In der vergangenen Woche hatte Richard nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Nun, da die Statue endlich auf ihrem Platz stand, überwältigte ihn die Müdigkeit. Angesichts der vielen Mehrarbeit zusätzlich zu dem wenigen Schlaf und der schlechten Ernährung war er fast so weit, dass er sich auf der Stelle hätte niederlegen können.

Victor kam aus den langen Schatten hervor; einige Arbeiter waren schon dabei, aufzubrechen, andere wiederum würden noch stundenlang beschäftigt sein. Richard hatte nicht einmal mitbekommen, dass es den größten Teil des Tages gedauert hatte, die Statue umzusetzen. Jetzt, da die Hitze der Arbeit vorbei war, klebte ihm das schweißdurchtränkte Hemd eiskalt auf der Haut.

»Hier«, sagte Victor und reichte Richard eine Scheibe Lardo. »Iss. Um zu feiern, dass du es geschafft hast.«

Richard bedankte sich bei seinem Freund, bevor er den Lardo gierig verschlang. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um den Menschen vor Augen zu führen, was sie sehen mussten. Aber jetzt, da die Arbeit beendet war, fühlte Richard sich plötzlich verloren. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie sehr er es verabscheute, fertig zu sein, auf die würdevolle Arbeit verzichten zu müssen. Sie war es gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte.

»Ich schlafe im Stehen ein, Ishaq. Meinst du, du könntest mich auf dem Nachhauseweg ein Stück in deinem Wagen mitnehmen?«

Ishaq gab Richard einen Klaps auf den Rücken. »Komm, du kannst hintendrauf mitfahren. Ich bin sicher, Jori hat nichts dagegen. So kann er dir wenigstens einen Teil deines Fußmarsches ersparen. Ich muss hier bleiben und mich um die Gespanne und die Wagen kümmern.«

Richard bedankte sich bei dem strahlenden Victor. »Morgen früh, meine Freunde, werden wir bei vollem Tageslicht die Plane abnehmen und zum letzten Mal Schönheit erblicken. Danach … nun, wer weiß.«

»Also, dann bis morgen«, sagte Victor mit seinem listigen Lächeln. »Ich glaube, heute Nacht mache ich kein Auge zu«, rief er Richard hinterher.

All die Monate der Anstrengung schienen auf einmal über ihn hereinzubrechen. Er kletterte auf die Ladefläche von Ishaqs Wagen und wünschte dem Mann eine gute Nacht. Als Ishaq sich entfernte, rollte Richard sich, um sich gegen das Licht zu schützen, unter einer Plane zusammen und war eingeschlafen, bevor Jori zurückkehrte. Er bekam nicht das Geringste davon mit, dass der Wagen sich in Bewegung setzte.

Nicci beobachtete, wie Richard zusammen mit Ishaq aufbrach. Sie wollte es alleine tun; es sollte ihr Beitrag sein. Sie wollte etwas beisteuern, das von Wert war.

Erst dann konnte sie ihm wieder gegenübertreten.

Sie wusste ganz genau, wie der Orden auf die Statue reagieren würde; man würde sie als Gefahr ansehen und nicht zulassen, dass andere sie zu Gesicht bekamen. Der Orden würde sie demzufolge zerstören. Dann wäre sie dahin, und niemand würde je von ihrer Existenz erfahren.

Die Finger ineinander schlingend überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte – was zuerst zu tun war. Dann kam ihr der rettende Gedanke. Sie hatte ihn schon einmal aufgesucht; und damals hatte er Richard auch geholfen. Mit hastigen Schritten lief Nicci über das weite Gelände der Palastbaustelle und den Hügel hinauf.

Sie war außer Atem, als sie bei der Schmiedewerkstatt anlangte. Der grimmig dreinblickende Schmied war gerade dabei, das Werkzeug fortzuräumen; das Feuer in seiner Esse hatte er bereits mit Asche zugedrückt. Einen winzigen Augenblick lang riefen die Gerüche und Bilder, ja sogar die feine Schicht aus Eisenstaub und Ruß in Nicci eine freudige Erinnerung an die Werkstatt ihres Vaters hervor. Jetzt begriff sie den Blick in den Augen ihres Vaters. Sie bezweifelte, dass er ihn selbst je ganz verstanden hatte, aber sie tat es jetzt. Der Schmied sah auf, ohne zu lächeln, als sie in seine Werkstatt stürmte.

»Mr. Cascella! Ich brauche Eure Hilfe!«

Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Was ist denn los? Wieso weint Ihr? Ist es wegen Richard? Hat man ihn…«

»Nein, nichts dergleichen.« Sie ergriff seine fleischige Hand und zog. Es war, als wollte man einen Felsbrocken fortziehen. »Bitte, kommt mit. Es ist wichtig.«

Er deutete mit seiner freien Hand um sich, auf seine Werkstatt. »Aber ich muss für die Nacht aufräumen.«

Sie zerrte abermals an seiner Hand. Sie merkte, wie ihr die Tränen in den Augen stachen. »Bitte! Es ist wirklich wichtig!«

Er wischte sich mit seiner freien Hand übers Gesicht. »Also gut, geht Ihr voraus.«