Nicci kam sich ein wenig albern dabei vor, den stämmigen Schmied an der Hand hinter sich herzuziehen, als sie den Hang hinunterrannte. Er wollte wissen, wohin sie denn gingen, aber sie antwortete nicht. Sie wollte unten sein, bevor das Tageslicht ganz verschwunden war.
Als sie auf dem Vorplatz anlangten, patrouillierten Gardisten, jedem den Zutritt auf den Platz verwehrend, auf dem Oberrand der Treppe. Ganz in der Nähe erblickte Nicci Ishaq, der lange Holzbohlen auf einen Wagen lud. Sie rief ihm etwas zu, und als er sah, dass der Schmied bei ihr war, kam er herbeigeeilt.
»Was ist denn, Nicci? Ihr seht aus wie eine völlig verängstigte…«
»Ich muss Euch beiden die Statue zeigen. Jetzt gleich.«
Victors Miene verfinsterte sich. »Sie wird morgen enthüllt werden, wenn Richard…«
»Nein! Ihr müsst sie unbedingt jetzt sofort sehen.« Die beiden verstummten. Ishaq beugte sich, verstohlen gestikulierend, zu ihr hin.
»Wir können dort nicht hinauf. Sie wird bewacht.«
»Ich kann schon.« Wütend wischte Nicci sich die Tränen aus den Augen. Ihre Stimme gewann jenen Ton feierlicher Machtbefugnis zurück, dessen sie sich so oft bedient hatte, jenen düsteren Tonfall, in dem sie das Urteil über so viele Menschenleben gefällt und diese in den Tod geschickt hatte. »Wartet hier.«
Nicci drückte den Rücken durch und reckte das Kinn empor. Sie war wieder eine Schwester der Finsternis.
Gemessenen Schritts, als ob der Palast ihr gehörte, stieg sie die Stufen hinauf. Und er gehörte tatsächlich ihr, denn sie war die Königin der Sklaven. Diese Männer unterstanden ihrem Kommando.
Sie war die Herrin des Todes.
Die Gardisten näherten sich ihr mit Bedacht; sie spürten, dass diese schwarz gekleidete Frau gefährlich war.
Sie sprach zuerst, noch bevor sie überhaupt den Mund aufmachen konnten.
»Was tut ihr hier?«, fauchte sie.
»Was wir hier tun?«, erwiderte einer. »Wir bewachen den Palast des Kaisers, das tun wir hier…«
»Wie kannst du es wagen, mir eine ungehörige Antwort zu geben. Weißt du überhaupt, wer ich bin?«
»Nun ja … ich glaube nicht, ich…«
»Die Herrin des Todes. Vielleicht hast du schon von mir gehört?«
Ein Dutzend Männer nahm Haltung an. Sie merkte, wie sie das schwarze Kleid abermals musterten, danach ihr langes blondes Haar und ihre blauen Augen. Ihre Reaktion auf das, was sie sahen, ließ für Nicci keinen Zweifel daran, dass ihr Ruf ihr vorausgeeilt war. Bevor sie noch eine weitere Bemerkung hervorbrachten, ergriff sie abermals das Wort.
»Was, glaubt ihr, tut die Gesellschafterin des Kaisers hier? Glaubt ihr etwa, ich sei ohne meinen Herren hierher gekommen? Natürlich nicht, ihr Trottel!«
»Der Kaiser…«, stammelten mehrere schockiert.
»Ganz recht, der Kaiser wird morgen zur Weihung hier eintreffen. Ich bin hergekommen, um mir vorab selbst ein Bild zu machen, und was muss ich sehen? Idioten! Ihr steht hier untätig herum, während ihr eigentlich Aufstellung nehmen solltet, um Seine Exzellenz zu begrüßen, wenn er in nur wenigen Stunden in der Stadt eintrifft!«
Die Gardisten bekamen große Augen. »Aber … davon hat uns niemand was gesagt. Wo kommt er überhaupt an?«
»Glaubt ihr vielleicht, ein so bedeutender Mann möchte, dass jeder Meuchelmörder weit und breit über seinen Aufenthaltsort informiert wird, damit der ihn aufspüren kann? Und was tut ihr, falls sich tatsächlich ein Meuchelmörder hier herumtreiben sollte? Ihr steht tatenlos herum!«
Sämtliche Soldaten verneigten sich beflissen.
»Wo?«, fragte ein Sergeant. »Wo wird Seine Exzellenz ankommen?«
»Er wird von Norden her eintreffen.«
Der Mann benetzte sich die Lippen. »Aber … aber über welche Straße von Norden her? Es gibt jede Menge Routen, die in Frage kommen…«
Nicci stemmte die Fäuste in die Hüften. »Glaubt ihr vielleicht, Seine Exzellenz kündigt den Reiseweg vorab an? Und auch noch euresgleichen? Würde nur eine einzige Straße bewacht werden, wüsste doch wohl jeder Attentäter sofort, wo er auf den Kaiser warten muss, oder? Sämtliche Straßen müssen bewacht werden! Und Ihr steht stattdessen hier herum!«
Die Männer nickten und verbeugten sich nervös; sie wollten fort, um ihre Pflicht zu tun, wussten aber nicht, wohin.
Die Zähne aufeinander beißend, beugte Nicci sich zu dem Sergeanten. »Bringt Eure Männer hinaus zu einer der von Norden kommenden Straßen. Sofort. Das ist Eure Pflicht und Schuldigkeit. Sämtliche Straßen müssen bewacht werden.«
Die Soldaten traten unter mehrfachen Verbeugungen ab und entfernten sich. Nach nur wenigen hastigen Schritten ergriffen sie die Flucht und fingen an zu rennen. Sie konnte sehen, wie unterwegs weitere Gardisten abkommandiert wurden.
Während sie den Vorplatz räumten, wandte Nicci sich den beiden verdutzten Männern zu. Sie stiegen, jetzt unbehelligt von den Gardisten, die Stufen hinauf. Einige Bürger, die über die gepflasterten Fußwege schlenderten, um sich die Bildhauereien an den Mauern anzusehen, hatten das Geschrei vernommen und wandten sich neugierig um.
Als Victor und Ishaq die Ebene des Vorplatzes erreichten, löste Nicci die Stricke, packte das Leinentuch mit beiden Händen und riss den Schleier von der Statue.
Die beiden Männer erstarrten mitten im Schritt.
Im Halbkreis rings um den Vorplatz waren die Mauern mit der Geschichte der Unzulänglichkeit des Menschen bedeckt, rings um sie herum wurde der Mensch als klein, verdorben, missgestaltet, unfähig, verängstigt, grausam, geistlos, böse, habgierig, korrupt und sündhaft dargestellt. Er wurde gezeigt als auf ewig zerrissen zwischen jenseitigen Mächten, die jeden Aspekt seines jämmerlichen Daseins beherrschten, eines unfassbaren Daseins in einem von Sündhaftigkeit brodelnden Kessel, aus dem allein der Tod Erlösung bot. Wer im Diesseits unter dem Schutz des Lichts des Schöpfers zu Tugendhaftigkeit gelangt war, wirkte leblos, die Gesichter dieser Menschen waren bar jeder Empfindung und Bewusstheit, ihre Körper steif wie die von Toten. Aus leeren, geistlos abgestumpften Augen starrten sie hinaus in die Welt, während sich zwischen ihren Beinen Ratten tummelten, Schlangen sich um ihre Beine wanden und über ihren Köpfen Geier ihre Kreise zogen.
Inmitten dieses Strudels aus gequältem Leben, dieser Sintflut aus Korruptheit, Verdorbenheit und Laster, erhob sich in kühnem, strahlendem Widerspruch Richards Statue.
Sie war eine vernichtende Anklage gegen all das, was sie umgab.
Das Ausmaß und die Wucht der Hässlichkeit, die Richards Statue umringte, schien zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen. Die Verderbtheit der Wandreliefs schien jetzt, angesichts dieser reinen, unverdorbenen Schönheit und Wahrhaftigkeit, ihre eigene Unaufrichtigkeit geradezu hinauszuschreien.
Die beiden Figuren in der Mitte standen da in einer Haltung harmonischer Ausgewogenheit. Der Körper des Mannes offenbarte eine stolze Männlichkeit. Obwohl die Frau bekleidet war, ließ sie an ihrer Weiblichkeit keinen Zweifel. In beiden spiegelte sich eine Liebe für den menschlichen Körper wider, die diesen als sinnlich, würdevoll und rein ansah. Die Verdorbenheit ringsum schien vor dieser Reinheit und Würde geradezu entsetzt zurückzuschrecken.
Mehr noch aber existierte Richards Statue ganz ohne Widerspruch; die Figuren legten Bewusstheit, Vernunft und Zielbewusstsein an den Tag. Es war eine Offenbarung der Stärke, der Fähigkeit und wahren Bestimmung des Menschen. Dies war das Leben, das man um seiner selbst willen lebte. Dies war die Menschheit, die sich aus freiem Willen stolz erhob.
Es entsprach genau dem einen Wort des Titels auf ihrem Sockeclass="underline"
LEBEN
Ihre Existenz war der Beweis für die Gültigkeit dieser Idee.
Sie war das Leben, so wie es gelebt werden sollte – stolz, von Vernunft gelenkt und niemals als Sklave eines anderen. Sie war die gebührende Begeisterung des Individuums, die Feier der Erhabenheit des menschlichen Geistes.
Als Antwort hatte alles an den Mauern ringsum nichts als den Tod zu bieten.
Sie antwortete mit dem Leben.