Victor und Ishaq lagen weinend auf den Knien.
Der Schmied hob lachend seine Arme zu der vor ihm stehenden Statue, während ihm Freudentränen über das Gesicht strömten.
»Er hat es tatsächlich geschafft. Er hat sein Wort gehalten. In Stein wiedergegebenes Fleisch, Erhabenheit und Schönheit.«
Menschen, die gekommen waren, um die anderen Bildhauereien zu betrachten, begannen sich zu sammeln, um zu sehen, was sich dort mitten auf dem Platz erhob. Sie starrten mit weit aufgerissenen Augen, viele von ihnen zum allerersten Mal mit dem Gedanken konfrontiert, dass der Mensch von Geburt Würde besaß. Diese Aussage war so voller Kraft, dass sie allein alles an den Mauern ringsum zur Bedeutungslosigkeit verdammte.
Viele wurden beim Betrachten von derselben Erkenntnis ergriffen wie Nicci.
Die anderen Bildhauer verließen ihre Arbeitsstellen, um zu sehen, was dort mitten auf dem Vorplatz stand; die Steinmetze stiegen von ihren Arbeitsgerüsten herunter, die Zuarbeiter setzten ihre Mörteleimer ab, die Tischler kletterten von ihren Arbeitsplätzen beim Einpassen der Balken herunter, die Dachdecker legten ihre Meißel fort, die Gespannfahrer banden ihre Pferde an, Arbeiter, die mit Umgraben und Bepflanzen des umliegenden Geländes beschäftigt waren, ließen ihre Schaufeln fallen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie herbei zu der mitten auf dem Vorplatz stehenden Statue.
Immer mehr Menschen strömten die Treppe hinauf und scharten sich, sie ehrfurchtsvoll bestaunend, in gewaltiger Zahl um die Figur. Viele sanken weinend auf die Knie, nicht aus Trübsal wie zuvor, sondern vor Freude. Viele, wie der Schmied, verfielen in Gelächter, während ihnen Freudentränen über ihre glücklichen Gesichter strömten. Einige wenige verhüllten ängstlich ihr Gesicht.
Während die Menschen sie mit den Augen aufnahmen, begannen sie fortzulaufen, um andere zu holen. Bald strömten die Arbeiter aus den Werkstätten am Hang herbei, um zu sehen, was dort auf dem Vorplatz stand. Männer und Frauen, die gekommen waren, um sich die Bauarbeiten anzusehen, liefen nach Hause, um ihre Lieben zu holen, um sie herzubringen, damit sie sahen, was hier vor dem Palast des Kaisers stand.
Es war etwas, das die meisten dieser Menschen in ihrem ganzen Leben noch niemals zu Gesicht bekommen hatten.
Es öffnete den Blinden die Augen.
Es war Wasser für die Dürstenden. Es war das Leben für all jene, die im Sterben lagen.
66
Kahlan holte ihre Karte hervor und warf einen kurzen Blick darauf dann blickte sie in beiden Richtungen die Straße hinunter, dabei fiel ihr auf, dass die anderen Wohnhäuser nicht ganz so gut in Schuss waren.
»Was meint Ihr?«, erkundigte sich Cara mit gesenkter Stimme.
Kahlan schob die Karte wieder unter ihren Überwurf. Sie zog das Fell ein wenig höher über ihre Schultern und vergewisserte sich, dass es das Heft von Richards Schwert verdeckte, das sie auf ihren Rücken geschnallt trug: ihr eigenes Schwert war unter ihrem Umhang verborgen.
»Ich weiß nicht. Uns bleibt nicht mehr viel Tageslicht. Ich schätze, es gibt nur eine Möglichkeit, ganz sicherzugehen.«
Cara betrachtete die Menschen, die in ihre Richtung blickten. Meistens machten die Menschen in dieser Stadt einen auffallend wenig neugierigen Eindruck. Da sie ihre Pferde vor den Toren der Stadt in einem Stall untergestellt hatten, hatten sie keine Möglichkeit, schnell zu fliehen, sollten sie sich unvermittelt aus dem Staub machen müssen. Die allgemein verbreitete Interesselosigkeit der Menschen linderte Kahlans Sorge ein wenig.
Sie hatten beschlossen, sich einfach so zurückhaltend und zwanglos zu verhalten wie möglich. Auch hatte sie angenommen, dass sie in ihrer Reisekleidung ziemlich unauffällig aussehen würden, doch an einem so trostlosen Ort wie Altur’Rang hatten die beiden große Mühe, nicht aufzufallen. Rückblickend wünschte sie sich, sie hätten die Zeit gehabt, irgendwelche schäbige Kleidung aufzutreiben. Kahlan fühlte sich etwa so unauffällig wie ein paar aufgetakelte Freudenmädchen auf einem Jahrmarkt auf dem Land.
Sie stieg die Treppe zu dem Wohnhaus hoch, als wüsste sie, wohin sie wollte, und gehörte dorthin. Der Flur drinnen war sauber, er roch nach frisch geschrubbtem Holzfußboden. Cara dicht auf den Fersen, ging Kahlan weiter bis zum ersten Flur auf der rechten Seite. Weiter hinten im Flur konnte sie den Treppenschacht erkennen. Wenn dies das richtige Gebäude war, dann musste es diese Tür sein.
Kahlan sah sich nach beiden Seiten um und klopfte. Niemand antwortete. Sie klopfte abermals, ein wenig lauter. Sie versuchte den Türknauf, es war jedoch abgeschlossen. Nach einem weiteren prüfenden Blick in den Hausflur zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel, schob es unter die Türleiste und drückte es zur Seite, bis die Tür aufsprang. Sie packte Cara beim Ärmel und zog die Frau mit sich hinein.
Drinnen nahmen die beiden eine kampfbereite Haltung an, doch im Zimmer war niemand. Das Erste, was Kahlan im durch die beiden Fenster hereinfallenden Licht bemerkte, war, dass es zwei Schlaflager gab. Dann entdeckte sie Richards Rucksack.
Sie ließ sich in der hinteren Zimmerecke auf die Knie hinunter, schlug die Lasche zurück und sah seine Sachen darin – sein Kriegszaubereranzug lag ganz zuunterst. Den Tränen nahe, drückte sie den Rucksack an ihre Brust.
Über ein Jahr war es jetzt her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Fast die Hälfte der Zeit, die sie ihn kannte, war er von ihr getrennt gewesen. Es schien ihr, als könnte sie dies keinen Augenblick länger ertragen.
Plötzlich vernahm Kahlan ein Geräusch. Cara hatte einen jungen Mann am Handgelenk gepackt, als dieser, ein Messer schwingend, ins Zimmer gestürzt kam.
Kahlan warf abwehrend die Hände in die Luft. »Nicht, Cara!«
Einen verdrießlichen Ausdruck im Gesicht, nahm Cara ihren Strafer wieder vom Hals des jungen Mannes. Seine Augen waren, sowohl aus Angst als auch aus Empörung, weit aufgerissen.
»Diebe! Ihr seid Diebe! Das gehört Euch nicht! Legt das wieder hin!«
Kahlan stürzte auf den jungen Mann zu und bedeutete ihm, die Stimme zu senken.
»Lautet dein Name Kamil oder Nabbi?«
Überrascht kniff der junge Mann die Augen halb zu. Sich die Lippen benetzend, warf er einen Blick über die Schulter, hin zu der Frau, die ihn in Schach hielt.
»Ich bin Kamil. Wer seid Ihr? Woher kennt Ihr meinen Namen?«
»Ich bin ein Freund. Von Gadi weiß ich…«
»Dann seid Ihr kein Freund!«
Bevor er um Hilfe schreien konnte, hielt ihm Cara die Hand über den Mund.
Kahlan brachte ihn zum Schweigen. »Gadi hat einen Freund von uns getötet. Nachdem wir ihn gefangen genommen hatten, verriet er mir deinen Namen.«
Als sie sah, dass ihn die Nachricht überraschte, bedeutete Kahlan Cara, ihre Hand zu senken.
»Gadi hat jemanden umgebracht?«
»So ist es«, bestätigte Cara.
Er warf einen verstohlenen Blick über seine Schulter. »Was habt Ihr mit ihm gemacht? Mit diesem Gadi?«
»Wir haben ihn hingerichtet«, antwortete Kahlan, ohne ihm das genaue Strafmaß zu verraten.
Der junge Mann lächelte. »Dann seid Ihr wirklich Freunde. Gadi ist ein schlechter Mensch. Er hat meinen Freund verletzt. Ich hoffe, er hat gelitten.«
»Es hat lange gedauert, bis er starb«, bestätigte Cara.
Der junge Mann schluckte, als er ihr Grinsen hinter seiner Schulter bemerkte. Kahlan gab Cara ein Zeichen, ihn loszulassen.
»Und wer seid Ihr beide?«, fragte er.
»Mein Name ist Kahlan, und das hier ist Cara.«
»Und was tut Ihr hier?«
»Das ist ein wenig kompliziert, aber wir sind auf der Suche nach Richard.«
Sein Misstrauen kehrte zurück. »Ach ja?«
Kahlan lächelte. Er war tatsächlich ein Freund von Richard. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schaute ihm in die Augen.
»Ich bin seine Gemahlin. Seine wirkliche Gemahlin.«
Kamil blinzelte sprachlos. »Aber, aber…«
Kahlans Stimme wurde härter. »Nicci ist nicht seine Ehefrau.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, während ein Lächeln über sein Gesicht huschte. »Ich wusste es. Ich wusste, dass er sie nicht liebt. Ich habe nie verstanden, wie Richard sie heiraten konnte.«