»Gütiger Schöpfer, aber Niccis Vater ist ein Monster«, hatte sie sich gewöhnlich händeringend beklagt, woraufhin ihr einige der Freunde murmelnd ihr Mitgefühl versichert hatten. »Warum muss er mir eine so schwere Bürde auferlegen! Ich fürchte, seine ewige Seele ist jenseits aller Hoffnung und Gebete.« Woraufhin die anderen Frauen ihr mit der Zunge schnalzend voller Bitterkeit beipflichteten.
Die Augen ihrer Mutter waren vom selben matten Braun wie der Rückenpanzer einer Kakerlake, für Niccis Empfinden standen sie zu eng beieinander. Auch ihr Mund war schmal, als habe ihre immer währende Missbilligung ihn in dieser Position erstarren lassen. Wenngleich Nicci ihre Mutter nie als wirklich hässlich empfand, so hielt sie sie auch nie für schön, obwohl ihre Freunde ihr genau dies mit schöner Regelmäßigkeit versicherten.
Niccis Mutter behauptete, Schönheit sei für eine fürsorgliche Frau ein Fluch und nur für Huren ein Segen.
Verwirrt vom Ärger ihrer Mutter über ihren Vater hatte Nicci schließlich wissen wollen, was er denn angestellt hatte.
»Nicci«, hatte ihre Mutter an jenem Tag geantwortet und ihr winziges Kinn in die Hand genommen. Nicci harrte der Worte ihrer Mutter voller Spannung. »Du hast wunderschöne Augen, aber du siehst mit ihnen nichts. Die Menschheit besteht aus elenden Schuften – das ist ihr Los. Machst du dir überhaupt eine Vorstellung, wie schmerzhaft es für all die Menschen ohne deine vielen Vorzüge sein muss, in dein hübsches Gesicht zu schauen? Das ist das Einzige, was du anderen bescherst: unerträgliches Leid. Der Schöpfer hat dich aus keinem anderen Grund in die Welt gesetzt, als das Leid der anderen zu lindern, und du kommst daher und bringst ihnen nichts als Unheil.«
Die Freunde ihrer Mutter nickten, nippten an ihrem Tee und versicherten sich untereinander tuschelnd ihrer betrübten, aber unerschütterbaren Zustimmung.
In diesem Augenblick hatte Nicci zum allerersten Mal erfahren, dass sie den unauslöschlichen Makel eines unbestimmten, namenlosen, uneingestandenen Unheils in sich trug.
Nicci blickte in das ungewöhnliche Gesicht, das zu ihr aufsah. Heute würden die dunklen Augen dieses Mädchens Dinge sehen, die es sich noch nicht vorstellen konnte. Diese großen Augen sahen hin, ohne wahrzunehmen. Sie konnte unmöglich begreifen, was ihr bevorstand und warum.
Was für ein Leben hatte sie zu erwarten?
Es wäre nur zu ihrem Besten so…
Der Augenblick war gekommen.
8
Nicci wollte gerade anfangen, als sie etwas gewahrte, das Empörung in ihr auslöste. Sie wirbelte herum zu einer in der Nähe stehenden Frau.
»Wo gibt es hier einen Wäschezuber?«
Von der Frage überrascht, deutete die Frau mit zitterndem Finger auf ein nicht weit entferntes zweigeschossiges Gebäude. »Dort drüben, Herrin. Im Hinterhof hinter der Töpfereiwerkstatt, wo wir gerade Wäsche gewaschen haben, stehen Wäschezuber.«
Nicci packte die Frau an der Kehle. »Beschaff mir eine Schere. Bring sie mir dorthin.« Die Frau starrte sie aus angstvoll aufgerissenen Augen an. Nicci stieß sie von sich. »Sofort! Oder willst du lieber gleich hier auf der Stelle sterben?«
Nicci riss einen abgewetzten, mit Nieten besetzten Reserveriemen herunter, der, zusammengebunden mit mehreren anderen, auf Commander Kardeefs Schulter befestigt war. Er machte keinerlei Anstalten, sie daran zu hindern, als sie den Riemen jedoch zusammenraffte, packte er sie mit seinem mächtigen Griff am Oberarm.
Nicci warf einen durchdringenden Blick auf seine auf ihrem Arm ruhenden Finger, woraufhin er sie mit einem warnenden Knurren zurückzog. Sie wandte sich zu dem Mädchen, wickelte ihr den Riemen zweimal wie ein Halsband um den Hals und verdrehte ihn hinter ihr zu einer Schlaufe, mit deren Hilfe sie die Gefangene gängeln konnte. Überrascht gab das Mädchen ein ersticktes Kreischen von sich. Nicci schob sie vor sich her, hin zu dem Gebäude, auf das die Frau gedeutet hatte.
Angesichts von Niccis plötzlichem Zornesausbruch wagte niemand ihr zu folgen. Eine unweit stehende Frau, zweifellos die Mutter des Mädchens, begann laut zeternd zu protestieren, verstummte aber, als Kardeefs Männer auf sie aufmerksam wurden. Mittlerweile hatte Nicci das völlig verblüffte Mädchen um die Hausecke bugsiert.
Hinter dem Haus flatterten trostlose, von der groben Behandlung auf dem Waschbrett formlos gewordene und zerknitterte, jetzt straff gespannte und an der Leine festgeklammerte Wäschestücke im Wind, als wollten sie sich mit aller Gewalt befreien; über dem Dach des Gebäudes war der Rauch der Feuerstelle zu erkennen. Die nervöse Frau erwartete sie mit einer großen Schere.
Nicci führte das Mädchen zu einem mit Wasser gefüllten Zuber, zwang sie auf die Knie hinunter und drückte ihren Kopf unter Wasser. Während das Mädchen sich heftig wehrte, riss Nicci der Frau die Schere aus der Hand. Diese verbarg ihr Gesicht hinter ihrer Schürze, damit man ihr Gewimmer nicht so deutlich hörte, als sie in Tränen aufgelöst die Flucht ergriff, weil sie nicht mit ansehen wollte, wie ein Kind ermordet wurde.
Nicci zog den Kopf des Mädchens aus dem Wasser und machte sich, noch während es spuckte und nach Atem rang, an die Arbeit, ihr das tropfnasse Haar bis knapp über der Kopfhaut zu stutzen. Als Nicci das letzte durchnässte Büschel abgeschnitten hatte, tauchte sie das Mädchen abermals unter, beugte sich über sie und griff sich einen blassgelben Seifenklumpen vom neben dem Zuber auf der Erde liegenden Waschbrett. Nicci riss den Kopf des Mädchens hoch und begann zu schrubben. Das Mädchen kreischte, schlug mit ihren spindeldürren Armen um sich und zerrte am Riemen um ihren Hals, über den Nicci sie in der Gewalt hatte. Nicci ahnte, dass sie ihr vermutlich wehtat, doch sie nahm darauf keine Rücksicht.
»Was ist los mit dir?« Nicci rüttelte das nach Luft ringende Mädchen. »Weißt du nicht, dass du vor Läusen nur so wimmelst?«
»Aber … aber…«
Die Seife war grob und rau wie eine Raspel. Das Mädchen stieß gellende Schreie aus, als Nicci sie vornüber bog und das Schrubben fortsetzte.
»Gefällt es dir etwa, den ganzen Kopf voller Läuse zu haben?«
»Nein…«
»Muss es aber! Warum solltest du sie sonst haben?«
»Bitte! Ich will versuchen, mich zu bessern. Ich werde mich waschen. Versprochen!«
Nicci musste daran denken, wie sehr sie es gehasst hatte, sich an den Orten, an die ihre Mutter sie schickte, mit Läusen zu infizieren. Sie wusste noch genau, wie sie sich mit der gröbsten Seife, die sie finden konnte, eigenhändig abgeschrubbt hatte, nur um gleich darauf woandershin geschickt zu werden, wo sie augenblicklich wieder von Kopf bis Fuß von diesen verhassten Biestern befallen wurde.
Nachdem Nicci sie ein Dutzend Mal abgeschrubbt und eingetaucht hatte, schleppte sie das Mädchen schließlich zu einem Zuber mit klarem Wasser, in dem sie ihren Kopf hin und her schwenkte, um sie abzuspülen. Heftig blinzelnd versuchte das Mädchen die Augen von dem beißenden Seifenwasser zu befreien, das ihr über das Gesicht lief.
Nicci fasste das Mädchen unters Kinn und schaute ihr in die geröteten Augen. »Bestimmt sind deine Kleider völlig verlaust und voller Nissen. Du musst deine Kleider jeden Tag auswaschen – vor allem deine Unterwäsche –, sonst werden die Läuse einfach wiederkommen.« Nicci kniff das Mädchen in die Wangen, bis ihm Tränen in die Augen traten. »Du bist etwas Besseres und hast es nicht verdient, verlaust herumzulaufen! Weißt du das etwa nicht?«
Das Mädchen nickte, so gut dies ging, da Niccis kräftige Finger ihr Gesicht weiterhin festhielten. Obschon gerötet vom Wasser und vor Schreck aufgerissen, waren ihre großen, dunklen, intelligenten Augen noch immer erfüllt vom seltenen Gefühl des Staunens. So qualvoll und beängstigend die Erfahrung auch war – dem hatte sie keinen Abbruch tun können.
»Verbrenn dein Bettzeug. Beschaff dir neues.« Angesichts der Umstände, unter denen diese Menschen lebten und arbeiteten, schien diese Forderung jedoch aussichtslos. »Deine ganze Familie muss ihr Bettzeug verbrennen. Und ihre gesamte Kleidung waschen.«