Plötzlich schlang Kamil seine Arme um Kahlan und drückte sie aus einem Gefühl überbordender Glückseligkeit für Richard an sich. Leise lachend strich Kahlan dem jungen Mann übers Haar. Cara packte ihn am Kragen und zog ihn zurück, aber wenigstens tat sie es behutsam.
»Und Ihr?«, fragte Kamil an Cara gewandt.
»Ich bin eine Mord…«
»Cara ist eine gute Freundin von Richard.« Daraufhin schlang Kamil unerwartet auch Cara die Arme um den Hals. Kahlan befürchtete schon, die Mord-Sith könnte ihm den Schädel einschlagen, doch sie ließ es höflich über sich ergehen, auch wenn ihr nicht ganz wohl dabei zumute war. Kahlan glaubte, Cara sogar lächeln gesehen zu haben.
Kamil wandte sich wieder an Kahlan. »Aber was hat Richard dann mit Nicci zu schaffen?«
Kahlan atmete tief durch. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzählt sie mir.«
Einen Augenblick lang sah Kahlan ihm abschätzend in seine dunklen Augen. Ihr gefiel, was sie dort sah. Trotzdem hielt sie es für das Beste, sich einfach auszudrücken.
»Nicci ist eine Hexenmeisterin. Sie hat Richard mit Hilfe von Magie gezwungen, sie zu begleiten.«
»Magie? Was für Magie?«, hakte er nach.
Kahlan atmete abermals tief durch. »Sie hätte ihre Magie dazu benutzen können, mich zu verletzen oder gar zu töten, wenn Richard nicht einverstanden gewesen wäre, sie zu begleiten.«
Den Blick gen Himmel gerichtet, dachte Kamil darüber nach; schließlich nickte er. »Klingt logisch. Das entspricht ganz Richards Art – er würde alles tun, um die Frau zu retten, die er liebt. Ich weiß, dass er Nicci nie geliebt hat.«
»Und woher weißt du das?«
Kamil deutete auf die beiden Nachtlager. »Er hat nicht bei ihr geschlafen. Ich wette, bei Euch hat er geschlafen, wenn Ihr zusammen wart.«
Kahlan spürte, wie seine Offenheit sie erröten ließ. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht.« Er kratzte sich am Kopf. »Ihr seht einfach so aus, als würdet Ihr zu ihm gehören. Wenn Ihr seinen Namen aussprecht, spüre ich, wie viel Zuneigung Ihr für ihn empfindet.«
Kahlan konnte sich trotz ihrer Müdigkeit eines Lächelns nicht erwehren. Wochenlang waren sie in halsbrecherischem Tempo geritten, hatten unterwegs zwei Pferde verloren und andere erwerben müssen. Die letzte Woche waren sie mit sehr wenig Schlaf ausgekommen. Mittlerweile fiel es ihr bereits schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Dann weißt du also, wo Richard sich zurzeit befindet?«, fragte Kahlan.
»Bestimmt bei der Arbeit. Gewöhnlich kommt er ungefähr um diese Zeit nach Hause – wenn er nicht auch nachts arbeiten muss.«
Kahlan ließ den Blick kurz durchs Zimmer gehen. »Und Nicci?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie aus dem Haus gegangen, um Brot einzukaufen oder so. Ein bisschen seltsam ist es schon – normalerweise ist sie um diese Zeit längst zu Hause. Sie hat fast immer das Abendessen für Richard fertig.«
Kahlans Blick wanderte durch das dunkler werdende Zimmer, vom Tisch über das Waschbecken zum Küchenschrank. Sie ginge jetzt nur ungern fort, nur um erleben zu müssen, dass er eine Minute nach ihrem Weggang erschien. Kamil fand es merkwürdig, dass Nicci nicht zu Hause war. Dass beide fort waren, war Besorgnis erregend.
»Wo arbeitet er?«, fragte Kahlan.
»Auf der Baustelle.«
»Baustelle? Auf welcher Baustelle?«
Kamil deutete die Richtung an. »Draußen beim neuen Palast des Kaisers, der gerade gebaut wird. Morgen findet die große Weihungsfeier statt.«
»Dann ist der neue Palast fertig?«
»Ach was. Es wird noch Jahre dauern, bis es so weit ist. Im Grunde haben die Arbeiten gerade erst begonnen. Aber er soll jetzt schon dem Schöpfer geweiht werden. Eine Menge Menschen sind wegen der Feierlichkeiten nach Altur’Rang gekommen.«
»Richard hilft als Arbeiter bei der Errichtung des Palastes?«
Kamil nickte. »Er ist Bildhauer, jedenfalls im Augenblick. Davor hat er für Ishaqs Fuhrunternehmen gearbeitet, aber nachdem man ihn dann verhaftet hatte…«
Kahlan packte ihn bei seinem Hemd. »Er wurde verhaftet? Hat man ihn … gefoltert?«
Kamil wandte den Blick von ihrem aufgebrachten Gesicht ab.
»Ich habe Nicci Geld gegeben, damit man sie hineinließ und sie ihn besuchen konnte. Sie, Ishaq und Victor, der Schmied, haben ihn freibekommen. Er war schlimm zugerichtet. Als es ihm wieder besser ging, haben die Beamten ihn gezwungen, als Bildhauer zu arbeiten.«
Kamils Worte wirbelten ihr durch den Kopf. Ganz zuoberst jene, die besagten, Richard sei wieder genesen.
»Und jetzt meißelt er Statuen?«
Wieder nickte Kamil. »Er meißelt Menschen in Stein, die die Mauern des Palastes zieren sollen. Er hilft mir bei meinen Schnitzereien. Ich kann sie Euch zeigen, gleich draußen hinter dem Haus.«
Wunder über Wunder. Richard, ein Bildhauer. Dabei waren sämtliche Bildhauerarbeiten, die sie in der Alten Welt gesehen hatten, von geradezu grotesker Scheußlichkeit. Richard konnte unmöglich Freude daran haben, solche Hässlichkeit in Stein zu meißeln, doch offenbar hatte er keine andere Wahl.
»Vielleicht später.« Sich mit den Fingern über die Stirn reibend, versuchte Kahlan zu überlegen, was sie tun sollte. »Kannst du mich dorthin bringen, jetzt gleich? Zu dieser Baustelle, auf der Richard arbeitet?«
»Ja, wenn Ihr möchtet. Aber wollt Ihr nicht erst einmal abwarten, ob er nicht vielleicht doch nach Hause kommt? Vielleicht kommt er ja schon gleich.«
»Du sagtest, manchmal arbeitet er auch nachts?«
»In den letzten paar Monaten hat er oft nachts gearbeitet. Er arbeitet an einer ganz besonderen Statue für den Orden.« Kamils Miene hellte sich auf. »Er hat gesagt, ich soll morgen hingehen und sie mir anschauen. Morgen ist die Weihung, es kann also sein, dass er immer noch an ihr arbeitet, um sie fertig zu bekommen. Ich habe seine Arbeitsstelle nie gesehen, aber Victor, der Schmied, kennt sie.«
»Dann sollten wir diesen Schmied aufsuchen.« Kamil kratzte sich abermals am Kopf, während sein Gesichtsausdruck in Enttäuschung umschlug. »Aber der Schmied wird schon für den Abend nach Hause gegangen sein.«
»Ist jetzt sonst noch jemand dort draußen?«
»Kann sein, dass dort eine Menge Betrieb herrscht. Die Menschen strömen in Massen herbei, um den Palast zu sehen – ich war selbst auch schon da –, und heute Abend sind es womöglich noch mehr als sonst, wegen der Feierlichkeiten morgen.«
»Wir werden ihm eine Stunde Zeit geben«, entschied Kahlan. »Ist er bis dahin nicht zurück, arbeitet er wahrscheinlich. Wenn er nicht nach Hause kommt, müssen wir eben hingehen und ihn suchen.«
»Und wenn Nicci auftaucht?«, wollte Cara wissen.
Kamil tat ihre Besorgnis mit einer Handbewegung ab. »Ich werde mich auf die Treppe am Eingang setzen und nach Nicci Ausschau halten. Ihr beide könnt hier drinnen warten, wo Euch niemand sieht. Sobald ich Nicci die Straße heraufkommen sehe, komme ich her und warne Euch. Ich kann Euch jederzeit zum Hintereingang hinausschaffen, wenn ich sie nach Hause kommen sehe.«
Kahlan legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht.
»Hört sich gut an, Kamil. Wir werden hier im Zimmer warten.«
Kamil eilte nach draußen, um seinen Posten zu beziehen. Kahlan sah sich in dem aufgeräumten Zimmer um.
»Warum schlaft Ihr nicht ein wenig«, schlug Cara vor. »Ich werde Wache stehen. Ihr habt schon die letzte Wache übernommen.«
Kahlan war erschöpft. Ihr Blick fiel auf die Schlafstätte gleich neben Richards Sachen, dann nickte sie und legte sich auf sein Bett. Es wurde dunkel im Zimmer. Einfach nur dort zu liegen, wo er geschlafen hatte, war ein tröstliches Gefühl. Ihm so nahe zu sein, und doch so fern, machte es ihr allerdings unmöglich, einzuschlafen.
Nicci verzagte, als sie sah, dass Richard nicht in ihrem Zimmer war. Kamil war auch nirgends zu finden. Draußen auf der Baustelle, wo sie all die Menschen gesehen hatte, die gekommen waren, um Richards Statue zu bestaunen, hatte sie sich noch so gut gefühlt. Die Menschen waren in Scharen herbeigeströmt, um sie zu sehen und moralisch aufgerichtet zu werden.