Einige hatten sich wegen ihr verärgert gezeigt, und ausgerechnet sie hatte Verständnis dafür. Trotzdem konnte Nicci kaum glauben, wie hasserfüllt manche Menschen auf diese Schönheit reagiert hatten. Manche Menschen verabscheuten das Leben, auch das verstand sie. Es gab eben Menschen, die sich weigerten, die Augen aufzumachen – die sie gar nicht aufmachen wollten.
Andere wiederum hatten ganz ähnlich reagiert wie sie.
Jetzt war ihr alles klar; zum ersten Mal in ihrem Leben machte das Leben einen Sinn. Richard hatte es ihr zu erklären versucht, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte die Wahrheit auch früher schon vernommen, aber andere – ihre Mutter, Bruder Narev, der Orden – hatten sie niedergeschrien und sie moralisch unter Druck gesetzt, nicht auf sie zu hören.
Ihre Mutter hatte sie gut abgerichtet, und vom ersten Tag ihrer Begegnung mit Bruder Narev an war Nicci eine Soldatin in der Armee des Ordens gewesen.
Beim Anblick der Statue hatte sich ihr endlich – ganz unvermittelt und in aller Klarheit – jene Wahrheit offenbart, die zu erkennen sie sich stets geweigert hatte. Dies war die gültige Vision des Lebens, nach der sie so gedürstet hatte und der sie ihr Leben lang aus dem Weg gegangen war.
Jetzt begriff sie, warum ihr das Leben so leer, so sinnlos erschienen war; sie selbst hatte es mit ihrer Weigerung nachzudenken dazu gemacht. Nicci war eine Sklavin aller Bedürftigen gewesen. Sie hatte ihren Herren und Meistern die einzig wirkliche Waffe gegen sie selbst an die Hand gegeben; sie hatte sich ihren verdrehten Lügen preisgegeben, indem sie sich die lähmenden Ketten ihrer Schuld eigenhändig um den Hals gelegt und sich aus freien Stücken den Launen und Begehrlichkeiten anderer sklavisch unterworfen hatte, statt ihr Leben so zu leben, wie sie es hätte tun sollen – für sich selbst. Nie hatte sie nachgefragt, wieso es für sie rechtens war, eine Sklavin der Wünsche anderer zu sein, aber keine Sünde, dass die anderen sie zur Sklavin machten. Sie trug nicht zur Besserung der Menschheit bei, sondern war nichts weiter als die Dienerin zahlloser kleiner, winselnder Tyrannen. Das Böse war kein großes, einheitliches Etwas, sondern zeigte sich in einer endlosen Flut aus kleinen Ungerechtigkeiten, denen man nichts entgegensetzte, bis sie schließlich zu Monstren anwuchsen.
Ihr ganzes Leben lang war sie auf trügerischem Treibsand gewandelt, wo man Vernunft und Intellekt nicht trauen konnte, wo nur der Glaube Gültigkeit hatte und blinder Glaube heilig war. Sie selbst hatte der geistlosen Anpassung an diese sündhafte Nichtigkeit Geltung verschafft.
Sie hatte geholfen, alle zusammenzubringen, sodass die schlimmsten aller Menschen ihnen im Namen der Rechtschaffenheit gewissermaßen ihre Leine um den gemeinsamen Hals legen konnten.
Richard hatte, für alle sichtbar, auf ihr Bollwerk aus dreisten Lügen mit einer einzigen aufrichtigen Aussage der Schönheit geantwortet und diese noch durch die schlichten Worte auf der Rückseite der Sonnenuhr unterstrichen.
Es stand ihr zu, ihr eigenes Leben zu leben. Sie gehörte niemandem.
Freiheit existierte zuerst und vor allem im Verstand des vernunftbegabten, denkenden Individuums – das war es, was Richards Statue ihr vor Augen geführt hatte. Dass er sie in Stein gehauen hatte, war der Beweis. Obwohl er ihr Gefangener und der des Ordens war, hatte er sich dank seiner Ideale über beides hinweggesetzt.
Erst jetzt erkannte Nicci, dass ihr Vater stets dieselben Werte hochgehalten hatte – sie hatte es ihm an den Augen angesehen –, auch wenn er sie nicht hatte rational begründen können. Seine Werte fanden ihren Ausdruck in der Redlichkeit seiner Arbeit; deswegen hatte sie, von klein auf, ein Waffenschmied wie er werden wollen. Es war seine Vision des Lebens, die sie stets geliebt und bewundert und dabei gleichzeitig, ihrer Mutter und ihren Konsorten zuliebe, unterdrückt hatte. Derselbe Blick in Richards Augen, dieselbe Liebe zum Leben war es gewesen, die sie zu ihm hingezogen hatte.
Nicci wusste jetzt, dass sie aus einer ebenso end- wie ziellosen Sehnsucht heraus nicht nur den Einfluss ihrer Mutter über sie, sondern, wichtiger noch, ihre sündhaften Ideale hatte vergessen wollen.
Es tat ihr so Leid, dass Richard nicht zu Hause war. Wie gerne hätte sie ihm erklärt, dass er ihr die lange ersehnte Antwort gegeben hatte. Aber um Verzeihung würde sie ihn niemals bitten können; was sie ihm angetan hatte, war unverzeihlich, das wurde ihr jetzt klar. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war, das Unrecht wieder gutzumachen.
Sobald sie ihn gefunden hatte, würden sie fortgehen. Sie würden in die Neue Welt zurückkehren und Kahlan ausfindig machen. Anschließend würde Nicci alles wieder in Ordnung bringen. Sie musste Kahlan nahe sein, wenigstens in Sichtweite, um den Bann zurücknehmen zu können. Dann wäre Kahlan wieder frei, und Richard ebenfalls.
So sehr sie Richard liebte, jetzt begriff Nicci, dass er zu Kahlan gehörte, zu jener Frau, der er in Liebe verbunden war. Ihr Verlangen nach ihm rechtfertigte ihr Vorgehen keineswegs. Sie hatte ebenso wenig ein Recht auf das Leben anderer, wie diese ein Recht auf ihres hatten.
Nicci legte sich auf ihr Bett und musste weinen angesichts der Ungeheuerlichkeit dessen, was sie den beiden angetan hatte; die Scham überwältigte sie. Sie war so lange blind gewesen.
Sie war fassungslos, dass sie ihr ganzes Leben im Kampf für das Böse fortgeworfen hatte, nur weil es vorgab, gut zu sein. Sie war wahrhaftig eine Schwester der Finsternis gewesen.
Aber endlich konnte sie etwas dafür tun, den Schaden, den sie angerichtet hatte, wieder gutzumachen.
Kahlan konnte die Ausmaße der Menschenmenge kaum fassen. Im Licht des Mondes, der die dünne Schicht aus Wolkenschleiern in hellem Glanz erstrahlen ließ, und der vereinzelten Fackeln hier und da im Tal schien es, als ob die gesamte unbebaute Fläche, so weit das Auge reichte, dicht gedrängt voller Menschen stand.
Wie vom Donner gerührt, warf Kamil die Arme in die Luft. »Es ist mitten in der Nacht. Ich habe noch nie so viele Menschen hier draußen gesehen. Was tun sie alle hier?«
»Woher sollen wir das wissen?«, meinte Cara schnippisch. Ihre Stimmung war miserabel; sie war unzufrieden, weil sie Richard noch nicht gefunden hatten.
Auch in der Stadt hatte es von Menschen geradezu gewimmelt. Jetzt, da die Gardisten, wegen all dieser spätabendlichen Geschäftigkeit beunruhigt, in den Straßen Streife gingen, hatten sie ihren Eifer ein wenig zügeln und Vorsicht walten lassen müssen. Sie hatten Stunden gebraucht, um über Nebenstraßen, dunkle Gassen und mit Hilfe von Kamils Führung durch die Hinterhofsträßchen bis zur Baustelle hinauszugelangen.
Der junge Bursche deutete nach vorn. »Dort oben ist es.«
Sie folgten ihm eine von Werkstätten gesäumte Straße hinauf; die meisten von ihnen waren verschlossen und lagen im Dunkeln. In manchen konnte man Männer erkennen, die im Schein von Laternen oder Kerzen an Werkbänken arbeiteten.
Kahlan langte unter ihren Umhang und schloss die Finger um das Heft ihres Schwertes, als sie sah, wie ein Mann auf sie zugelaufen kam. Er bemerkte sie und blieb stehen.
»Habt Ihr sie schon gesehen?«
»Gesehen? Was denn?«, erkundigte sich Kahlan.
Er zeigte aufgeregt. »Unten, am Palast. Auf dem Vorplatz.« Wieder in seinen Laufschritt verfallend, rief er über die Schulter: »Ich muss meine Frau und meine Söhne holen; sie müssen sie unbedingt auch sehen.«
Kahlan und Cara sahen sich in der nahezu völligen Dunkelheit an.
Kamil lief hinüber zu einer der Werkstätten und rüttelte an einer Tür, doch sie war fest verriegelt. »Victor ist nicht da.« Er konnte die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen. »Es ist schon zu spät.«
»Weißt du, was sich dort unten auf dem Platz befindet?«, fragte ihn Kahlan.
Er überlegte einen Augenblick. »Auf dem Platz? Den Ort kenne ich, aber … wartet, Richard sagte, dass ich dorthin gehen soll, auf den Vorplatz. Er meinte, ich soll morgen auf den Vorplatz des Palastes gehen.«