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»Gehen wir doch jetzt gleich runter und sehen uns ein wenig um«, meinte Kahlan.

Kamil wies ihnen mit einer Handbewegung den Weg. »Hier entlang ist es am kürzesten, den Hang hinter der Schmiedewerkstatt hinunter.«

Es herrschte ein solches Gedränge, dass sie über eine Stunde brauchten, um bis zum Fuß des Hügels zu gelangen und sich einen Weg über das ausgedehnte Gelände zu bahnen, das den Palast umgab. Obwohl es mitten in der Nacht war, trafen ständig mehr Menschen ein.

Als sie den Palast erreicht hatten, musste Kahlan feststellen, dass es unmöglich war, bis auf den Vorplatz vorzudringen. Eine riesige, sich endlos entlang der vorderen Palastmauer nach hinten erstreckende Menschenmenge wartete darauf, den Platz betreten zu können. Als Kahlan, Cara und Kamil sie zu umgehen und nach oben zu gelangen versuchten, um herauszufinden, was sich dort tat, hätte dies um ein Haar einen Tumult ausgelöst. Die Menschen hatten lange gewartet, um bis zum Vorplatz vorzurücken, und waren ganz und gar nicht damit einverstanden, dass andere sich vorzudrängeln versuchten. Kahlan beobachtete, wie mehrere Männer sich vorzuschieben versuchten, indem sie die wartende Menge umgingen. Der Mob fiel über sie her.

Cara zog ihre Hand unter ihrem Umhang hervor und zeigte Kahlan ganz beiläufig ihren Strafer.

Kahlan schüttelte den Kopf. »Gegen die große Übermacht von Jagangs Armee vorzugehen ist eine Sache, aber wir drei gegen mehrere hunderttausend Menschen, das scheint mir keine gute Idee.«

»Ach nein?«, erwiderte Cara. »Ich dachte, die Chancen stünden ungefähr gleich.«

Kahlan lächelte nur. Selbst Cara war nicht so unvernünftig, eine riesige Menschenmenge gegen sich aufzubringen. Kamil runzelte verwundert die Stirn über Caras Art von Humor. Als sie das Ende der Schlange gefunden hatten, mischten sie sich unter die Wartenden.

Nicht lange, und die Schlange hinter ihnen nahm ein derartiges Ausmaß an, dass sie das Ende, das sich bis hinaus auf das umliegende Gelände wand, nicht mehr sehen konnten; eine seltsam nervöse Anspannung schien sich all der Menschen ringsum bemächtigt zu haben.

Eine rundliche, in wenig mehr als Lumpen gehüllte Frau vor ihnen bedachte sie mit einem plumpen Lächeln. Sie bot ihnen etwas an, das wie ein Laib Brot aussah.

»Mögt Ihr etwas?«, fragte sie.

»Nein, vielen Dank«, antwortete Kahlan. »Aber das Angebot ist sehr freundlich.«

»Ich habe noch nie jemandem ein solches Angebot gemacht.« Die Frau kicherte. »Aber jetzt scheint es genau das Richtige zu sein, findet Ihr nicht?«

Kahlan hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon die Frau redete, antwortete aber: »Ja, gewiss.«

Die ganze Nacht hindurch schob sich die Schlange Zoll um Zoll voran. Kahlan hatte quälende Rückenschmerzen. Sie sah sogar Cara das Gesicht verziehen, als diese sich streckte.

»Ich glaube noch immer, dass wir unsere Waffen ziehen und dort hinaufgehen sollten«, meinte Cara schließlich vorwurfsvoll.

Kahlan beugte sich nahe zu ihr. »Was für einen Unterschied würde das machen? Müssen wir vor morgen früh noch irgendwohin? Wenn es Morgen wird, können wir zur Schmiedewerkstatt hinaufgehen und werden dort hoffentlich Richard finden, aber heute Abend können wir nichts mehr tun.«

»Vielleicht ist er jetzt in seinem Zimmer.«

»Wollt Ihr Nicci noch einmal über den Weg laufen? Ihr wisst doch, zu was sie fähig ist. Beim nächsten Mal haben wir vielleicht nicht das Glück, fliehen zu können. Wir haben nicht den weiten Weg hierher gemacht, um uns mit ihr anzulegen – ich will nur Richard sehen. Selbst wenn Richard dorthin zurückkehren sollte – was wir nicht wissen –, so wissen wir doch, dass er auf jeden Fall morgen früh hierher zurückkehren muss.«

»Kann sein«, erwiderte Cara mürrisch.

Als sie bis zum Fuß der marmornen Stufen vorgerückt waren, begann der Himmel soeben einen schwach rötlichen Schimmer anzunehmen. Weiter vorne konnten sie Stöhnen und Klagelaute hören. Den Grund dafür vermochte Kahlan nicht zu erkennen, aber offenbar ließen die Menschen auf dem Vorplatz ihren Tränen freien Lauf. Merkwürdigerweise hörte man auch einige Menschen fröhlich lachen. Ein paar wenige fluchten, als hätte man ihnen gerade mit vorgehaltenem Messer ihre gesamten Ersparnisse geraubt.

Während sie sich langsam die Stufen hinaufbegaben, versuchten Kahlan und Cara hinter den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Deckung zu suchen, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Der Vorplatz oberhalb von ihnen war von Dutzenden von Fackeln erleuchtet, deren flackerndes Licht einen Eindruck von der Größe der Menschenmenge vermittelte. Der Geruch brennenden Pechs vermischte sich mit dem abgestandenen, säuerlichen Schweiß der dicht gedrängten Menschenmassen.

Als sich im Gedränge vor ihr vorübergehend eine Lücke auftat, erhaschte Kahlan einen kurzen Blick nach vorn. Was sie dort sah, versetzte sie in Erstaunen, aber beinahe ebenso schnell, wie sie es gesehen hatte, war es auch wieder hinter der Menschenmenge verschwunden. Die Menschen vor ihr weinten – einige, dem Klang nach zu urteilen, vor Freude.

Kahlan begann die höflichen Stimmen von Männern zu unterscheiden, die die Menge baten, nicht stehen zu bleiben, und sie geradezu beschworen, anderen ebenfalls eine Chance zu geben. Die bunt zusammengewürfelte Menschenansammlung schob sich auf die weiße Marmorfläche des Vorplatzes wie Bettler bei einer Krönungszeremonie. Schließlich, als die Sonne über dem Horizont aufging, wich der Schein der Fackeln dem Licht eines strahlend hellen Tages. Die Fassade des Palastes wurde in goldenes Sonnenlicht getaucht.

Die in Stein gemeißelten Szenen am oberen Mauerrand waren verstörend. Falls sie sich in irgendetwas von all den anderen unterschieden, die sie in der Alten Welt gesehen hatten, dann höchstens darin, dass sie noch grausamer und erschreckender, von einer noch verzweifelteren Hoffnungslosigkeit erfüllt und noch übertriebener waren.

Kahlan ließ ihre Gedanken über die Konturen ihrer Statuette Seele wandern. Die Vorstellung, dass man Richard zwang, Dinge in Stein zu meißeln, wie sie sie oben auf der Mauer gewahrte, erfüllte sie mit Abscheu.

Sie spürte, wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit sie überkam. Das war es, wofür der Orden stand: Schmerzen, Leid und Tod. Das war es, was die Neue Welt durch die Hand dieser Barbaren zu erwarten hatte. Sie konnte ihre Augen nicht von den Szenerien an den Wänden lösen, von dem Schicksal, das die Menschen ihrer Heimat erwartete – jenes Schicksal, das so viele blinden Auges willkommen hießen.

Dann, als die Menschen um sie herum und an ihr vorüberschlurften, fiel ihr Blick völlig unvermittelt auf die weißen Marmorfiguren, die sich vor ihr erhoben. Der Anblick raubte ihr den Atem und ließ sie aufstöhnen. Die Strahlen der morgendlichen Dämmerung beschienen sie, so als wäre die Sonnen eigens aufgegangen, um ihre erhabenen Formen in ihrer ganzen Herrlichkeit zu umschmeicheln.

Caras Finger gruben sich schmerzhaft in Kahlans Arm, als auch sie von dem Anblick ergriffen wurde. Die Statue des Mannes und der Frau überwältigte mit ihrer geistigen Größe Kahlans Fantasie.

Sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, dann brach sie, wie die Menschen ringsherum, angesichts der Erhabenheit, Würde und Schönheit dessen, was dort vor ihr stand, ganz offen in Tränen aus. Die Statue war all das, was die Bildhauerarbeiten an den Wänden ringsum nicht waren. Großzügig und in aller Offenheit bot sie alles dar, was jene verwehrten.

LEBEN stand auf dem Sockel geschrieben.

Kahlan, unter Tränen, musste schwer nach Atem ringen, um wieder Luft zu bekommen. Sie klammerte sich an Caras Arm und Cara an ihren, und so hielten sie sich beide aneinander fest, um sich zu stützen, als sie von der Menge in einem Strom allgemeiner Gefühlsaufwallung mitgerissen wurden. Der Mann in der Statue war nicht Richard, hatte aber große Ähnlichkeit mit ihm. Die Frau war nicht Kahlan, aber sie war ihr ähnlich genug, dass Kahlan merkte, wie sie vor den anderen, die sie ebenfalls sahen, errötete.

»Bitte schaut sie Euch an und geht dann weiter, damit die anderen auch einen Blick auf sie werfen können«, wiederholten die etwas seitlich stehenden Männer ein ums andere Mal. Sie trugen keine Uniformen und sahen ebenso abgerissen aus wie alle anderen. Es schienen ganz gewöhnliche Bürger zu sein, die einfach eingeschritten waren, um zu helfen.