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Als die Menge verstummt war, begann er mit der entsetzlichen schnarrenden Stimme zu sprechen, jener Stimme, die sie, als sie noch klein war, vom ersten Tag an in ihrem Heim verfolgt hatte, jener Stimme, der sie gestattet hatte, ihre Gedanken zu beherrschen, jener Stimme, die ihr, gemeinsam mit der Stimme ihrer Mutter, das Denken abgenommen hatte.

»Bürger des Ordens der Imperialen Ordnung, wir haben für euch ein ganz besonderes Ereignis vorgesehen. Heute werden wir euch das Schauspiel der Versuchung vorführen … und mehr noch.«

In einer gleitenden Bewegung deutete er mit dem Arm hinter sich, auf die Statue. Seine langen, dürren Finger öffneten sich, und seine Stimme polterte vor Abscheu. »Das Böse selbst.«

Ein unsicheres Murren ging durch die Menge. Bruder Narev lächelte; der dünne Spalt seines Mundes zog seine Wangen in Falten, als er wie der Schädel des Todes höchstpersönlich grinste; seine Augen waren ebenso düster wie sein Gewand. Die untergehende Sonne floh, alle Pracht mit sich nehmend, das Geschehen, und zurück blieb der flackernde Schein Dutzender von Fackeln, der sich orangefarben auf die massiven, sich im Hintergrund des Platzes erhebenden Säulen legte, sowie das schwache Licht des Mondes, das die grimmigen Gesichter der Beamten mit einem fahlen Glanz belegte. Die Luft, so überladen von den schweren Gerüchen der Menge, war kalt geworden.

»Mitbürger des Ordens der Imperialen Ordnung«, wiederholte Bruder Narev mit einer Stimme, die nach Niccis Dafürhalten geeignet war, die Mauern zerspringen zu lassen, »heute werdet ihr sehen, was dem Bösen widerfährt, wenn man es mit der Tugendhaftigkeit des Ordens konfrontiert.«

Mit einem knochendürren Finger gab er ein Zeichen hinter die Köpfe der Beamten. Gardisten drängten Richard gewaltsam nach vorn. Nicci entfuhr ein Schrei, der jedoch im Getöse von zehn tausenden anderer Stimmen unterging.

Schließlich trat Bruder Neal, einen Vorschlaghammer mit sich schleppend, wankend vor.

Nicci schaute sich nach beiden Seiten um und sah, dass mehrere tausend bewaffnete Gardisten bereitstanden; weitere schirmten den Vorplatz vor der Bevölkerung ab – Bruder Narev war kein Risiko eingegangen. Mit höflichem Lächeln und einer unterwürfigen Verbeugung überreichte Neal Bruder Narev den Hammer.

Bruder Narev hob den Vorschlaghammer über seinen Kopf, so als wäre er ein im Triumph gen Himmel gerecktes Schwert.

»Das Böse muss vernichtet werden, wo immer man ihm begegnet.« Er deutete mit dem schwankenden Kopf des Vorschlaghammers auf die Statue. »Dies ist ein Werk des Bösen, geschaffen von einem seine Mitmenschen hassenden Fanatiker, um die Schwachen zu peinigen und zu quälen. Er trägt nichts bei zum Fortschritt seiner Mitmenschen, zum Schutz seiner Mitmenschen, zur Ausbildung und Unterstützung seiner Mitmenschen. Er hat nichts zu bieten als lüsterne und gotteslästerliche Bilder, die auf die Leichtgläubigen und Wankelmütigen abzielen.«

In ihrer Verwirrung und Enttäuschung war die Menge verstummt. Nach den Eindrücken, die Nicci im Laufe des Tages mitten unter ihnen gewonnen hatte, waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass diese Statue eine neue Spende des Ordens an das Volk darstellte – ein prachtvolles Werk, das sie am Palast des Kaisers bewundern konnten, ein Werk, das eine strahlende, glänzende Hoffnung verhieß. Was sie jetzt hörten, verwirrte und bestürzte sie.

Bruder Narev hob den Vorschlaghammer in die Höhe. »Bevor die Leiche dieses Verbrechers für seine Verbrechen gegen den Orden an einen Pfahl gehängt wird, soll er mit ansehen müssen, wie sein abscheuliches Machwerk unter dem Jubel der unbescholtenen Bevölkerung zertrümmert wird!«

Als der allerletzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont versank, reckte Bruder Narev den schweren Vorschlaghammer hoch in den flackernden Schein der qualmenden Fackeln. Unsicher schwankend verharrte der Vorschlaghammer einen kurzen Augenblick auf dem Scheitelpunkt seines Bogens, bevor er sich mit wuchtigem Schwung senkte. Ein Aufstöhnen wie aus einem Munde erhob sich über der Menge, als der stählerne Kopf beim Aufprall auf das Bein der männlichen Figur erklang. Einige wenige kleine Gesteinssplitter lösten sich, mehr nicht.

In der darauf folgenden vollkommenen Stille war zu hören, wie Richard Bruder Narevs kraftlosen Schlag voller Spott verlachte.

Selbst aus der Ferne vermochte Nicci zu erkennen, wie Bruder Narevs Gesicht sich dunkelrot verfärbte, während Richard ihn amüsiert in sich hineinlachend beobachtete. Ein Raunen ging durch die Menge; niemand konnte so recht glauben, dass ein Mann es wagte, einen Bruder des Ordens, noch dazu Bruder Narev höchstpersönlich, auszulachen.

Bruder Narev konnte es selbst kaum glauben.

Auch die vielen Gardisten, die ihre Speere auf Richard richteten, konnten es kaum glauben.

In der angespannten Stille hallte Richards Gelächter von dem Halbkreis aus steinernen Mauern und hoch aufragenden Säulen hinter ihnen wider. Dann kehrte das Totenkopfgrinsen zurück. Bruder Narev nahm den Vorschlaghammer, dessen Gewicht er mit seiner knochigen Hand kaum halten konnte, an seinem Kopf auf und hielt Richard den Stiel hin.

»Du wirst dein sündiges Werk eigenhändig vernichten.« Die Worte ›oder du stirbst auf der Stelle‹ wurden nicht laut ausgesprochen, und doch hörte jeder, dass sie stillschweigend mit Inbegriffen waren.

Richard nahm den Stiel des Vorschlaghammers entgegen. Er hätte nicht würdevoller aussehen können, hätte er ein mit Juwelen besetztes Schwert in Empfang genommen.

Richards Raubtierblick löste sich von Bruder Narev und glitt, während er mehrere Schritte in Richtung Treppe zurücklegte, über die Menschenmenge hinweg. Mit dem Heben eines Fingers bedeutete Bruder Narev den Gardisten, ihre Speere zurückzuhalten. Nach dem spöttischen Feixen auf den Gesichtern der Brüder Narev und Neal waren sie nicht der Meinung, dass die Menge hören wollte, was ein Sünder zu verkünden hatte.

»Ihr werdet«, sprach Richard mit einer Stimme, die über die Menschenmassen hinweghallte, »von erbärmlichen, unbedeutenden Männern beherrscht.«

Wie aus einem Mund stöhnte die Menge auf. Das Wort gegen einen Ordensbruder zu erheben, das war höchstwahrscheinlich Verrat und ganz sicher Ketzerei.

»Worin besteht mein Verbrechen?«, fragte Richard laut. »Ich habe euch ein Stück Schönheit geschenkt, das ihr betrachten könnt, in der ebenso gewagten wie festen Überzeugung, dass ihr, so ihr denn wollt, ein Recht darauf habt, es zu betrachten. Schlimmer noch … ich habe erklärt, dass es euch zusteht, euer Leben eigenmächtig zu bestimmen.«

Ein lautes Raunen wogte durch die Menge. Richards Stimme wurde kräftiger und verschaffte sich mit ihrer Klarheit über dem Getuschel Gehör.

»Das Böse ist nicht ein einziges, großes Ganzes, sondern eine Ansammlung zahlloser kleiner Schlechtigkeiten, aus dem Schmutz hervorgezerrt von unbedeutenden Männern. Da ihr unter dem Joch des Ordens lebt, habt ihr die Bereicherung der Fantasie gegen den grauen Dunst der Mittelmäßigkeit eingetauscht – die fruchtbare Inspiration von Streben und Wachstum gegen gedankenlosen Stillstand und allmählichen Verfall – das kühne Neuland des Bemühens gegen einen angstbesetzten Morast aus Interesselosigkeit.«

Die Menge lauschte mit starrem Blick und bewegungslosen Lippen. Richard deutete mit seinem Vorschlaghammer, den er erneut mit der mühelosen Eleganz eines königlichen Schwertes schwenkte, über ihre Köpfe hinweg.

»Nicht etwa gegen einen Teller Suppe habt ihr eure Freiheit eingetauscht, sondern schlimmer, gegen die leeren Versprechungen anderer, die behaupten, euch stehe ein Teller Suppe zu, den aber wieder andere für euch bereitstellen sollen.

Glück, Freude, Erfüllung, Leistung … sind keine begrenzten Güter, die es zu verteilen gilt! Kann man das Lachen eines Kindes aufspalten und verteilen? Nein! Sorgt einfach dafür, dass mehr gelacht wird!«