Gelächter, freudiges Gelächter ging durch die Menge.
Bruder Narevs Miene verfinsterte sich. »Wir haben von dem unsinnigen Geplapper dieses Fanatikers genug gehört! Zerstöre deine gotteslästerliche Statue! Auf der Stelle!«
Richard legte seinen Kopf schräg. »Ach? Die vereinte Versammlung des Ordens und der Brüder fürchtet sich vor den Worten eines einzelnen Mannes? So viel Angst machen Euch bloße Worte, Bruder Narev?«
Seine dunklen Augen riskierten einen verstohlenen Blick in die Menge, als diese sich, gespannt auf seine Antwort, nach vorne beugte.
»Worte machen uns keine Angst. Die Tugendhaftigkeit steht auf unserer Seite und wird obsiegen. Sprich deine Gotteslästerungen, damit alle begreifen, warum sittenstrenge Menschen sich gegen dich zusammentun.«
Richard lächelte in die Menge, seine Worte aber waren von brutaler Aufrichtigkeit.
»Jeder Mensch hat das Recht auf ein eigenes Leben. Das Leben eines jeden Einzelnen kann und muss allein ihm gehören, nicht einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, denn sonst wäre er nichts weiter als ein Sklave. Weder kann jemand einem anderen das Recht auf sein Leben verwehren noch ihm mit Gewalt das nehmen, was er geschaffen hat, denn damit würde er ihn der Mittel zum Bestreiten seines Lebensunterhalts berauben. Einem Mann das Messer an die Kehle zu halten und ihm vorzuschreiben, wie er sein Leben zu leben hat, ist Verrat an der Menschheit. Eine Gesellschaft kann niemals wichtiger sein als die Einzelwesen, aus denen sie besteht, denn sonst misst man nicht etwa dem Menschen die höchste Wichtigkeit bei, sondern, um den Preis eines niemals endenden Blutzolls, jeder beliebigen Idee, die dieser Gesellschaft plötzlich in den Sinn kommt. Allein Vernunft und Wirklichkeitssinn führen zu einer gerechten Gesetzgebung; geistloses Wunschdenken wird, wenn man es zur obersten Gewalt erklärt, zu einem tödlichen Gebieter.
Mit dem Verzicht auf die Vernunft zugunsten des Glaubens an diese Männer billigt ihr deren Gewaltanwendung zum Zwecke eurer eigenen Versklavung – und des Mordes an euch. Es steht in eurer Macht, selbst zu entscheiden, wie ihr euer Leben gestalten wollt. Ein Wort von euch, und diese erbärmlichen, nichtswürdigen Männer hier oben sind nichts weiter als Ungeziefer. Sie haben über euch keine andere Macht als die, die ihr ihnen gewährt!«
Richard deutete mit dem Vorschlaghammer auf die Statue hinter seinem Rücken. »Das ist das Leben, euer Leben, das ihr leben sollt, so wie es euch gefällt.« Den Kopf des Vorschlaghammers in weitem Bogen schwenkend, deutete er auf die Bildhauereien auf den Mauern. »Das ist es, was der Orden euch zu bieten hat: der Tod!«
»Wir haben genug von deinen Gotteslästerungen!«, kreischte Bruder Narev. »Zerstöre auf der Stelle dein Werk des Bösen oder stirb!«
Die Speere wurden angehoben.
Seelenruhig erfasste Richard die Gardisten einen nach dem anderen mit unerschrockenem Blick, bevor er zu seiner Statue hinüberging. Niccis Herz schlug gegen ihre Rippen; sie wollte nicht, dass sie zerstört wurde. Sie war zu prachtvoll, um zerstört zu werden. Dies alles durfte nicht geschehen. Das durften sie den Menschen nicht wieder nehmen.
Richard legte den Vorschlaghammer über seine Schulter. Seine andere Hand zur Statue erhebend, richtete er ein letztes Mal das Wort an die Menschenmenge.
»Das ist es, was der Orden euch nehmen wird – eure Menschlichkeit, eure Eigenständigkeit, die Freiheit, euer Leben selbst zu gestalten.« Richard legte den Vorschlaghammer kurz an seine Stirn.
Dann sauste der stählerne Kopf in mächtigem Schwung herum. Nicci konnte die Luft sirren hören. Die gesamte Statue schien zu erzittern, als der Vorschlaghammer mit donnerndem Schlag gegen den Sockel prallte.
Es folgte ein Augenblick unerträglicher Stille, in dem sie ein kaum hörbares Geräusch vernahm: das Reißen, Knacken und Flüstern des Steins selbst.
Dann stürzte die gesamte Statue in einem Getöse aus Trümmerstücken und wallendem weißem Staub in sich zusammen.
Die Beamten auf der Rückseite des Platzes brachen in Jubel aus. Die Gardisten johlten und grölten und schwenkten ihre Waffen.
Sie waren die Einzigen. Als der Staub sich über den Vorplatz wälzte, war es in der Menge totenstill. All ihre Hoffnungen, die diese Statue verkörperte, waren soeben zunichte gemacht worden.
Nicci starrte benommen. Ein heftiger, quälender Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, und sie bekam feuchte Augen. Alle schauten zu, so als wären sie soeben Zeugen eines tragischen, sinnlosen Todes geworden.
Die Gardisten rückten mit gesenkten Speeren gegen Richard vor und drängten ihn zurück gegen andere Gardisten, die ihn mit schweren Eisenfesseln erwarteten.
Unten, näher bei den Stufen, erhob sich klar und deutlich eine Stimme aus der gelähmten Menschenmenge. »Nein! Das lassen wir uns nicht gefallen!«
In der zunehmenden Dunkelheit erkannte Nicci den Mann, der gerufen hatte. Er stand ziemlich weit vorn und versuchte sich voller Ungestüm einen Weg durch das Gedränge zu bahnen, um auf den Vorplatz zu gelangen.
Es war der Schmied, Mr. Cascella.
»Das lassen wir uns nicht gefallen!«, brüllte er. »Ich lasse mich nicht länger von euch zum Sklaven machen! Hört ihr mich? Ich bin ein freier Mann! Ein freier Mann!«
Die gesamte Menschenmasse vor dem Platz brach in ohrenbetäubendes Gebrüll aus.
Und dann stürzte sie wie ein Mann nach vorn.
Die Fäuste in die Luft gereckt, die Stimmen zu wütendem Geschrei erhoben, brandete die menschliche Masse einer Lawine gleich auf den Platz. Schwer bewaffnete Soldaten marschierten die Stufen hinunter, um sich dem Vorstoß entgegenzustellen. Sie wurden von dem Ansturm fortgespült.
Nicci schrie aus Leibeskräften, um Richards Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch ging ihre Stimme in dem mächtigen Getöse unter.
68
Richard wusste nicht, was ihn mehr verblüffte: seine Statue in Trümmern zu sehen oder die Menge, die die Stufen heraufstürmte, nachdem Victor sich zum freien Mann erklärt hatte.
Unaufhaltsam wälzte sich der Mob über die bewaffneten Gardisten hinweg, die die Stufen hinunterstiegen, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Etliche Menschen stürzten verwundet oder tot zu Boden, ihre Körper wurden unter dem Ansturm der Massen zertrampelt. Wer vorne lief, konnte nicht mehr stehen bleiben, selbst wenn er gewollt hätte; der Druck der zehntausende in seinem Rücken trieb ihn unaufhaltsam weiter. Ohnehin hätte niemand stehen bleiben wollen. Es herrschte ein markerschütterndes Gebrüll.
Die Ordensbrüder wurden von Panik ergriffen, ebenso wie die Beamten auf dem rückwärtigen Teil des Platzes und auch die paar tausend bewaffneten Gardisten.
Richard hatte es auf Bruder Narev abgesehen. Stattdessen sah er, wie bewaffnete Soldaten in seine Richtung gestürmt kamen. Richard holte aus und versenkte den Kopf des Vorschlaghammers in der Brust eines Mannes, der sich mit erhobenem Schwert auf ihn stürzen wollte. Als der Mann, den Griff des Vorschlaghammers in der Brust, vorübersegelte, riss Richard ihm das Schwert aus der Faust und gab, die Klinge in der Hand, jegliche Zurückhaltung auf.
Eine kleine Gruppe von Gardisten hielt es für angebracht, die Ordensbrüder zu beschützen. Richard warf sich mitten unter sie und traf mit jedem Hieb. Jeder Hieb oder Stoß ließ einen Soldaten niedersinken.
Aber es waren nicht die Gardisten, denen Richards Hauptinteresse galt. Wenn er schon alles verlieren würde, dann wollte er zum Ausgleich wenigstens Bruder Narevs Kopf. Als er sich durch das Chaos der auf den Platz stürmenden Menschen wühlte, war Bruder Narev nirgends zu entdecken.
Victor löste sich aus dem Handgemenge, einen Ordensbruder an den Haaren zerrend. Der stämmige Schmied hatte eine so finstere Miene aufgesetzt, dass man Eisen damit hätte biegen können. Der Ordensbruder verdrehte die Augen, als wäre er auf den Kopf geschlagen worden und hätte Mühe, wieder zur Besinnung zu kommen.
»Richard!«, brüllte Victor.
Die Männer, von denen einige noch immer das braune Gewand des Bruders gepackt hielten, stürzten jetzt von allen Seiten auf Richard zu, einen zehn oder fünfzehn Mann starken Schutzring um ihn herum bildend.