Er spürte, wie die Frau unter seinen Fingern zitterte. »Wo seid Ihr verletzt?«, erkundigte er sich leise. Er schob die Kapuze seines Gewandes zurück, sodass sie im durch das unfertige Deckengebälk hereinfallenden Mondlicht sein Gesicht erkennen konnte. »Ich heiße Richard.«
Ein Lächeln des Wiedererkennens ging über ihr Gesicht. »Mein Bein«, stieß sie hervor.
Sie schob ihr Kleid hoch. Im schwachen Licht erkannte er eine dunkle Wunde, unmittelbar oberhalb des Knies. Mit dem Schwert trennte er den Saum ihres Kleides ab, um ihn als Verband zu benutzen und die Wunde zu schließen.
»Ich will leben. Ich wollte helfen.« Sie nahm den Stoffstreifen und schob seine Hände zurück. »Danke, dass Ihr mir den Streifen herausgeschnitten habt. Jetzt komme ich allein zurecht.« Sie krallte eine Hand in sein Gewand und zog ihn näher heran. »Ihr habt uns mit Eurer Statue das Leben gezeigt; dafür möchte ich Euch danken.«
Lächelnd drückte Richard ihre Schulter.
»Ich habe versucht, diese Kakerlake zu erwischen. Werdet Ihr es für mich tun?«
Richard legte den Finger an die Lippen und drückte ihn ihr anschließend auf die Stirn. »Das werde ich. Verbindet Euer Bein und bleibt still liegen, bis wir die Lage unter Kontrolle haben. Dann schicken wir jemanden herein, der Euch hilft.«
Richard machte sich wieder auf den Weg und huschte weiter. Aus der Ferne drangen wutentbrannte, schmerzerfüllte Schreie. Gardisten, die in das Labyrinth des unvollendeten Palastes hatten fliehen können, prügelten auf Menschen ein, die ihnen nach drinnen gefolgt waren.
Hinter einer Ecke erblickte Richard einen zitternden Ordensbruder. Narev war es nicht, denn er trug eine Kapuze, keine Kappe. Die Rolle eines Ordensbruders spielend, zog Richard seine Kapuze wieder über und ging auf den Mann zu. Der Bruder schien erleichtert, auf einen seiner Kumpane zu stoßen.
»Wer bist du?«, flüsterte er in Richards Richtung und hob seine Hand, um mit Hilfe seiner Magie eine kleine Flamme über seiner Handfläche zu entzünden.
»Bruder Justizium«, antwortete Richard den weit aufgerissenen Augen, als er dem Mann das Schwert durchs Herz bohrte.
Richard zog sein Schwert wieder heraus und verbarg es wie zuvor unter seinem Gewand!
Nicci würde sich ganz sicher rächen; er schien nichts tun zu können, um das zu verhindern. Oft genug hatte sie ihm seine Entscheidungen abgenommen. Er war fest entschlossen, wenigstens den Orden zu vernichten. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, Nicci zur Vernunft zu bringen, sie dazu zu bringen, ihm zu helfen. Manchmal, so schien es, kam der Ausdruck ihrer Augen dem Begreifen aufreizend nahe; er wusste, dass Nicci etwas für ihn empfand. Er wünschte nur, er könnte diese Gefühle dazu verwenden, sie zur Vernunft zu bringen, ihm zu helfen, ihre Fesseln abzuwerfen, nur wusste er nicht wie.
Als er Gardisten in seine Richtung laufen hörte, zog Richard sich in die völlige Dunkelheit eines Raumes zurück. Als sie in den Korridor einbogen, zog Richard abermals sein Schwert, und als sie schließlich ganz nahe waren, sprang er aus der Türöffnung hervor und schlug dem ersten Gardisten den Kopf ab. Der zweite holte mit seinem Schwert aus und verfehlte ihn, bevor er zu einem zweiten Hieb ansetzte; Richard bohrte dem Mann sein Schwert in den Bauch. Der verwundete Gardist wich zurück und rutschte von der Klinge ab. Bevor Richard ihm den Rest geben konnte, kamen weitere Gardisten in den Korridor gestürmt; Richard zog sich in die dunkle Türöffnung zurück, wodurch er die Männer dazu verleitete, ihm zu folgen. Vollkommen reglos stand er in der Dunkelheit; als sie schließlich keuchend hereingestürzt kamen und der Schutt beim Herumdrehen unter ihren Fußballen knirschte, ortete Richard sie allem aufgrund des Geräusches und streckte sie nieder. Ein halbes Dutzend Männer starb in dem vollkommen finsteren Raum, bevor die übrigen die Flucht ergriffen.
Richard rannte weiter in die Richtung, aus der die Geräusche der Explosionen kamen. Jedes Mal, wenn ein Feuerstoß durch das verwirrende Geflecht aus Gängen und Korridoren schoss, hielt er sich die Hand vor Augen, um sich seine Sehfähigkeit im Dunkeln zu bewahren. Waren die gleißend hellen Lichtblitze verblasst, lief er rasch weiter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Es gab Meilen über Meilen von Fluren im Palast. Einige führten hinaus in offenes, noch unbebautes Gelände, andere verliefen zwischen oben offenen Mauern, wieder andere bohrten sich, abgedeckt durch darüber liegende Stockwerke oder Dächer, durch völlige Dunkelheit. Dem Tosen der durch Zauberei erzeugten Flammen folgend, stieg Richard über Treppen in völlige Finsternis hinunter in den unterirdisch gelegenen Teil des Palastes.
Unterhalb des Hauptgeschosses befanden sich ganze Systeme weit verzweigter und miteinander verbundener Räumlichkeiten, die aus einem verwirrenden Netzwerk von Kammern und engen Gängen bestanden. Durch dieses Labyrinth aus dunklen Räumen stürzte er, er stieg durch Löcher in nicht fertig gestellten Wänden und leere Türöffnungen, als er plötzlich auf einen mit einem Überwurf bekleideten Mann mit einem Schwert stieß. Er hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass jemand von der Bevölkerung bewaffnet war.
Der Mann wirbelte, das Schwert voran, herum, aber da Richard sich mit einem Ordensgewand verkleidet hatte, wusste er, dass der Mann nicht unbedingt ein Feind sein musste.
In einem Aufblitzen des Mondlichts erblickte Richard zu seiner völligen Verblüffung das Schwert der Wahrheit hinter der Schulter dieser Person. Es war Kahlan.
Vor lauter Schreck konnte er sich nicht rühren.
Sie dagegen sah nur eine Gestalt in einem braunen Gewand – einen Ordensbruder – in einem Strahl des Mondlichts stehen, da die Kapuze sein Gesicht im Schatten ließ.
Im selben Augenblick, noch bevor er ihren Namen rufen konnte, sah er über Kahlans Schulter, wie jemand auf sie zugelaufen kam – Nicci.
In diesem einen entsetzlichen, schwer fassbaren Augenblick erkannte Richard, was er tun musste. Es war seine – und Kahlans – einzige Chance freizukommen.
In diesem kristallklaren Augenblick des Begreifens durchfuhr ihn ein Gefühl entsetzlicher Angst. Er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde.
Es musste.
Richard zog sein Schwert und wehrte Kahlans Stoß ab.
Und dann attackierte er.
Er trieb sie mit kontrollierter Gewalt vor sich her, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu verletzen. Wie sie kämpfte, wusste er; er wusste es, weil er es ihr selbst beigebracht hatte. Er spielte die Rolle eines ungeschickten, aber vom Glück begünstigten Widersachers.
Nicci kam näher.
Richard konnte es unmöglich länger hinausziehen; er musste genau den richtigen Augenblick erwischen. Er wartete, bis Kahlan ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet, um ihr Schwert dann mit einem wuchtigen Schlag in der Nähe des Handschutzes zu treffen. Erschrocken schrie sie auf, als ihr das Schwert aus der Hand flog und der Hieb sie, genau wie von ihm beabsichtigt, herumwirbeln ließ.
Sie zögerte keinen Moment. Ohne innezuhalten und noch in der Drehung langte sie mit der Hand nach oben und zog das Schwert der Wahrheit blank. Die Luft hallte wider von dem ihm so vertrauten, einzigartigen Klirren des Stahls.
Die Klinge voran, wirbelte Kahlan herum. Für den Bruchteil einer Sekunde gewahrte er den entsetzlichen, unbändigen Zorn in ihren Augen. Es schmerzte ihn, ihn in Kahlans wunderschönen Augen zu sehen, wusste er doch, was der Zorn aus einem Menschen machen konnte.
Richard trat ein in eine ganz eigene Welt der Empfindungslosigkeit; er wusste, was er zu tun hatte, spürte keinerlei Regung. Hoch abwehrend kontrollierte er ihren Angriff und bestimmte, wohin sie die Klinge richten sollte. Er musste sie dazu bringen, genau dorthin zu zielen, wo er es beabsichtigte, wenn er eine Chance haben wollte.
Mit zusammengebissenen Zähnen stieß Kahlan ihr Schwert in die Bresche, die er ihr absichtlich gelassen hatte.