Das Mädchen bekräftigte ihr Versprechen mit einem Nicken.
Ihr Werk vollbracht, führte Nicci das Mädchen zu der versammelten Menschenmenge zurück. Während sie es mit Hilfe des nietenbesetzten und als Halsband dienenden Riemens vor sich herschob, überkam sie unerwartet eine Erinnerung.
Es war die Erinnerung an den Augenblick ihrer allerersten Begegnung mit Richard.
Nahezu alle Schwestern im Palast der Propheten waren im großen Saal angetreten, um sich den neuen Knaben anzusehen, den Schwester Verna mitgebracht hatte. Nicci hatte am Mahagonigeländer gestanden, hatte ein aus ihrem Leibchen heraushängendes Stück Schnürband um den Finger gewickelt, nur um es straff zu ziehen und gleich darauf wieder aufzuwickeln, als sich die schweren Walnussholztüren öffneten. Das dröhnende Gesumm der Unterhaltung, durchsetzt von hellem Gelächter, verebbte zu erwartungsvollem Schweigen, als die Gruppe, angeführt von Schwester Phoebe, vorbei an den weißen Säulen mit den goldenen Kapitellen und unter der gewaltigen Gewölbekuppel in den Saal hereinmarschierte.
Die Geburt eines mit der Gabe gesegneten Knaben war ein seltenes Ereignis, das – wenn sie aufgespürt und schließlich in den Palast gebracht wurden, um dort zu leben – Anlass zu erwartungsvoller Freude gab. Für jenen Abend hatte man ein großes Bankett angesetzt. Die meisten Schwestern standen in ihren elegantesten Kleidern unten im Parkett und konnten es kaum erwarten, den neuen Knaben kennen zu lernen. Nicci hielt sich nahe der Mitte der unteren Galerie, es war ihr egal, ob sie ihn kennen lernte oder nicht.
Zu sehen, wie sehr Schwester Verna auf ihrer Reise gealtert war, traf sie beinahe wie ein Schock. Im Allgemeinen währten solche Reisen allerhöchstens ein Jahr, diese, hinter die große Barriere zur Neuen Welt, hatte nahezu deren zwanzig gedauert. Ereignisse jenseits der Barriere waren ungewiss, und so hatte man Verna ganz offensichtlich zu früh auf ihre Mission entsandt.
Das Leben im Palast der Propheten war ebenso angenehm wie heiter. Niemand im Palast der Propheten schien in der so unbedeutenden Zeitspanne von zwei Jahrzehnten gealtert zu sein, Verna dagegen war außerhalb des Banns, der den Palast umgab, geradezu alt geworden. Eigentlich hätte Verna, die wahrscheinlich fast hundertsechzig Jahre alt war, wenigstens zwanzig Jahre jünger sein müssen als Nicci, jetzt jedoch wirkte sie doppelt so alt wie diese. Natürlich alterten Menschen außerhalb des Palastes ganz normal, aber mit ansehen zu müssen, wie dies einer Schwester widerfuhr…
Als der donnernde Applaus in dem riesigen Saal anhielt, brachen viele der Schwestern angesichts der Tragweite des Augenblicks in Tränen aus. Nicci gähnte. Schwester Phoebe hob die Hand, bis sich Stille über den Saal senkte.
»Schwestern«, hob Phoebe mit bebender Stimme an, »bitte heißt Schwester Verna daheim willkommen.« Schließlich musste sie abermals die Hand heben, um den tosenden Beifall zu unterbinden.
Als es erneut im Saal ruhig geworden war, fuhr sie fort: »Darf ich Euch außerdem unseren jüngsten Schüler vorstellen, unser jüngstes Kind des Schöpfers, unseren jüngsten Schützling.« Einladend einen Arm ausstreckend, drehte sie sich um und forderte den offenkundig schüchternen Knaben mit den Fingern winkend auf, vorzutreten, während sie weitersprach. »Bitte heißt Richard Cypher im Palast der Propheten willkommen.«
Mehrere Frauen traten einen Schritt zurück, um Platz zu machen, als er entschlossenen Schrittes nach vorne kam. Nicci bekam große Augen und ihr Rücken straffte sich. Das war alles andere als ein junger Knabe, das war ein erwachsener Mann.
Trotz ihrer unverkennbaren Schockiertheit bereitete die Menge ihm applaudierend und jubelnd ein herzliches Willkommen. Nicci bekam nichts davon mit, seine grauen Augen hatten sie völlig in ihren Bann gezogen. Man stellte ihn einigen in unmittelbarer Nähe stehenden Schwestern vor. Die ihm zugeteilte Novizin, Pasha, wurde ihm vorgeführt und versuchte ihn anzusprechen.
Richard schob Pasha brüsk zur Seite – ein Platzhirsch, der eine Wühlmaus in die Schranken weist – und trat entschlossen allein in die Saalmitte. Sein ganzes Auftreten drückte die gleiche naturgegebene Überlegenheit aus, die Nicci auch in seinen Augen erblickte.
»Ich habe etwas zu verkünden.«
Der riesige Saal verfiel in überraschtes Schweigen.
Sein Blick schweifte durch den Saal. Nicci stockte der Atem, als er ihr, wie vermutlich auch zahllosen anderen, für einen Moment in die Augen blickte.
Mit zitternden Fingern klammerte sie sich ans Geländer, um sich festzuhalten.
In diesem Augenblick schwor Nicci, alles daranzusetzen, um zu einer seiner Lehrerinnen ernannt zu werden.
Er tippte mit den Fingern gegen den Rada’Han an seinem Hals.
»Solange Ihr mich diesen Halsring tragen lasst, seid Ihr meine Häscher, und ich bin Euer Gefangener.«
Gemurmel erfüllte den Raum. Man legte einem Knaben nicht nur deshalb einen Rada’Han um den Hals, weil man ihn beherrschen wollte, sondern auch zu seinem Schutz. Knaben wurden nie als Gefangene betrachtet, sondern als Schutzbefohlene, die Geborgenheit, Betreuung und Ausbildung brauchten. Richard aber sah das anders.
»Da ich mich keines Angriffs auf Euch schuldig gemacht habe, macht uns das zu Feinden. Wir befinden uns also im Krieg.«
Mehrere der älteren Schwestern wankten, der Ohnmacht nahe, unsicher auf den Fersen. Die Hälfte aller Frauen im Saal errötete, die übrigen wurden blass. Ein derartiges Selbstbewusstsein war für Nicci damals unvorstellbar gewesen. Angesichts seines Auftretens wagte sie nicht einmal zu blinzeln, um nur ja nichts zu verpassen. Sie atmete langsam, damit ihr kein Wort entging. Ihr klopfendes Herz dagegen überforderte ihre Möglichkeiten der Selbstbeherrschung.
»Schwester Verna hat mir geschworen, man wird mir beibringen, die Gabe zu beherrschen, und mich, sobald ich alles Nötige gelernt habe, freilassen. Solange Ihr Euch an dieses Versprechen haltet, befinden wir uns im Waffenstillstand. Aber ich stelle Bedingungen.«
Richard nahm einen roten Lederstab, der an einer dünnen Goldkette um seinen Hals hing, in die Hand. Damals wusste Nicci nicht, dass dies die Waffe einer Mord-Sith war.
»Man hat mir schon einmal einen Halsring angelegt. Die Person, die mir damals den Halsring anlegte, hat mir Schmerzen zugefügt, um mich zu bestrafen, um mich auszubilden und um mich zu bändigen.«
Nicci wusste, ein solches Schicksal konnte nur jemandem wie ihm widerfahren.
»Darin liegt der einzige Zweck eines solchen Halsrings. Einem wilden Tier legt man einen Halsring um, oder seinem Feind. Ich habe ihr so ziemlich dasselbe Angebot gemacht, das ich auch Euch jetzt mache. Ich bat sie, mich freizulassen. Sie hat sich geweigert, also war ich gezwungen, sie zu töten. Keine Einzige von Euch kann darauf hoffen, ihr jemals die Stiefel lecken zu können. Was sie tat, tat sie, weil man sie gefoltert, gebrochen und so verrückt gemacht hatte, dass sie einen Halsring benutzte, um Menschen wehzutun. Sie tat es gegen ihre innere Natur. Ihr…«, damit wanderte sein Blick von Augenpaar zu Augenpaar, »Ihr tut es, weil Ihr glaubt, es sei Euer Recht. Ihr macht Menschen im Namen Eures Schöpfers zu Sklaven. Ich kenne Euren Schöpfer nicht, ich kenne nur einen Einzigen jenseits dieser Welt, der sich genauso verhalten würde wie Ihr, und das ist der Hüter.« Der Menge stockte erschrocken der Atem. »Soweit es mich anbelangt, könnt Ihr durchaus Anhängerinnen des Hüters sein.«
Er hatte damals nicht die leiseste Ahnung, dass dies auf einige von ihnen zutraf.
»Tut Ihr dasselbe wie sie und benutzt diesen Halsring dazu, mir Schmerzen zuzufügen, endet die Waffenruhe. Ihr glaubt vielleicht, Ihr haltet die Leine für diesen Halsring in der Hand, doch ich verspreche Euch, wenn unsere Waffenruhe endet, werdet Ihr feststellen, dass Ihr einen Blitz in Händen haltet.«
Im Saal war es totenstill geworden.
Trotzig und allein stand er inmitten hunderter von Hexenmeisterinnen, die sich darauf verstanden, jede Nuance der Kraft zu nutzen, mit der sie geboren worden waren; er dagegen wusste nahezu nichts über seine Fähigkeiten, und obendrein hatte man ihn mit dem Rada’Han an die Kette gelegt. Darin mochte er einem Platzhirsch gleichen, wenn auch einem, der eine Versammlung von Löwinnen – hungrigen Löwinnen – zum Kampf aufforderte.