Richard krempelte seinen linken Ärmel hoch. Er zog sein Schwert – ein Schwert! – der gewaltigen Übermacht zum Trotz, die in Reih und Glied vor ihm Aufstellung genommen hatte. Als die Klinge blank gezogen wurde, erfüllte das unverkennbare Klirren von Stahl die Stille.
Nicci stand wie gebannt, als er seine Bedingungen auflistete.
Schließlich deutete er mit seinem Schwert hinter sich. »Schwester Verna hat mich gefangen genommen. Ich habe mich auf jedem Schritt dieser Reise gegen sie zur Wehr gesetzt. Um mich hierher zu schaffen, hätte sie mich fast umgebracht und auf ein Pferd gebunden. Doch obwohl auch sie meine Häscherin und Feindin ist, bin ich ihr in mancher Hinsicht etwas schuldig. Sollte ihr jemand meinetwegen ein Härchen krümmen, werde ich den Betreffenden töten, und die Waffenruhe ist beendet.«
Ein derart sonderbares Ehrgefühl war für Nicci vollkommen unbegreiflich, doch irgend etwas sagte ihr, dass es zu dem passte, was sie in seinen Augen erblickte.
Der Menge stockte erneut der Atem, als Richard sein Schwert über die Innenseite seines Armes zog. Er drehte es, zog beide Seiten durch das Blut, bis es von der Spitze tropfte. Andere konnten es vielleicht nicht, Nicci dagegen vermochte deutlich zu erkennen – ebenso wie sie in seinen Augen eine Fähigkeit erblickte, die andere nicht sahen –, dass das Schwert mit einer Magie in seinem Inneren verschmolz und sie vervollkommnete.
Die Knöchel weiß um das Heft geschlossen, reckte er die tiefrot glänzende Klinge in die Luft.
»Ich schwöre Euch einen Bluteid!«, rief er. »Tut Ihr den Baka Ban Mana etwas an, tut Ihr Schwester Verna etwas an oder mir, dann ist die Waffenruhe beendet, und ich verspreche Euch, dann sind wir im Krieg! Und wenn es zum Krieg kommt, werde ich den Palast der Propheten in Schutt und Asche legen!«
Vom Oberen Balkon, wo Richard ihn nicht sehen konnte, wehte Jedidiahs spöttische Stimme über die Menge hinweg. »Du ganz allein?«
»Zweifelt nur an mir, Ihr tut es auf eigene Gefahr! Ich bin ein Gefangener, es gibt nichts, wofür ich leben könnte. Ich bin die Fleisch gewordene Prophezeiung. Ich bin der Bringer des Todes!«
Aus der bestürzten Stille kam keine Antwort. Wahrscheinlich kannte jede Frau im Saal die Prophezeiung vom Bringer des Todes, auch wenn keine sich ihrer beabsichtigten Bedeutung sicher war. Der Text dieser Prophezeiung wurde zusammen mit allen anderen in den Gewölbekellern tief unter dem Palast der Propheten aufbewahrt. Dass Richard sie kannte, dass er es wagte, sie in dieser Gesellschaft lauthals zu verkünden, war ein denkbar schlechtes Zeichen. Alle Löwinnen im Saal zogen aus Vorsicht ihre Krallen wieder ein. Richard rammte das Schwert in seine Scheide zurück, als wollte er seine Drohung damit noch unterstreichen.
Nicci war sich darüber im Klaren, dass die tiefgreifende Bedeutung dessen, was sie in seinen Augen und in seinem Auftreten gesehen hatte, sie für immer verfolgen würde.
Sie war sich auch darüber im Klaren, dass sie ihn vernichten musste.
Nicci musste Gefälligkeiten gewähren und Versprechungen machen, auf die sie sich freiwillig nicht einmal im Traum eingelassen hätte, aber im Gegenzug wurde sie eine der sechs Ausbilderinnen Richards. All die Mühen, die sie als Gegenleistung für dieses Privileg auf sich genommen hatte, hatten sich gelohnt, sobald sie ihm allein an einem winzigen Tisch in seinem Zimmer gegenüber saß und ihm zart die Hände hielt – wenn es denn möglich war, mit zarter Hand einen Blitz zu halten – und sich bemühte, ihm beizubringen, wie man sein Han, die Essenz des Lebens und der Seele im Innern derer mit der Gabe, berührte. So sehr sie sich auch mühte, er spürte nichts. Das war an sich bereits seltsam. Oft genügte schon die leise Ahnung dessen, was sie in seinem Innern spürte, um sie der Fähigkeit zu berauben, ihm mehr als nur ein paar karge Worte zu entlocken. Beiläufig hatte sie die anderen ausgehorcht und wusste, dass sie blind dafür waren.
Obwohl Nicci nicht begreifen konnte, welcher Aspekt seines Verstandes es war, der sich in seinen Augen und seinem Auftreten zeigte, so wusste sie doch, dass er die dumpfe Sicherheit ihrer Gleichgültigkeit durcheinander brachte. Sie sehnte sich danach, es zu begreifen, bevor sie ihn vernichten musste, gleichzeitig sehnte sie sich danach, ihn zu zerstören, bevor es soweit kam.
Wann immer sie sicher war, kurz vor der Enträtselung des Geheimnisses seines einzigartigen Charakters zu stehen und vorhersagen zu können, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten würde, verblüffte er sie, indem er etwas völlig Unerwartetes, wenn nicht gar Unmögliches tat. Ein ums andere Mal legte er in Schutt und Asche, was sie für das Fundament ihres Verständnisses seiner Person gehalten hatte. Stundenlang saß sie allein und in tiefster Trübsal da, weil alles deutlich erkennbar vor ihr zu liegen schien, sie es aber dennoch nicht zu bestimmen vermochte. Sie wusste nur, dass es ein über alle Maßen bedeutendes Prinzip war, das sich nach wie vor ihrem Verständnis entzog.
Richard war über seine Lage niemals glücklich und ging mit der Zeit zunehmend auf Distanz. Von aller Hoffnung verlassen, beschloss Nicci, dass die Zeit gekommen sei.
Als sie zu seinem Zimmer ging, um ihm seine letzte Unterrichtsstunde zu erteilen und ihm ein Ende zu machen, überraschte er sie damit, dass er ihr eine seltene weiße Rose überreichte. Schlimmer noch, er überreichte sie lächelnd und ohne ein Wort der Erklärung. Als er sie ihr hinhielt, war sie so versteinert, dass sie nichts hervorbrachte als: »Ach, vielen Dank, Richard.« Diese weißen Rosen konnten unzweifelhaft nur aus gefährlichen abgesperrten Zonen stammen, zu denen sich kein Schüler jemals hätte Zutritt verschaffen können dürfen. Dass er dies ganz offensichtlich konnte und ihr den Beweis für seine Übertretung so unbefangen darbot, versetzte sie in höchste Alarmbereitschaft. Sie nahm die weiße Rose vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne zu wissen, ob er sie mit Hilfe eines verbotenen Geschenks – warnen wollte, dass er der Bringer des Todes war und sie gezeichnet wurde, oder ob es sich um eine Geste schlichter, wenn auch etwas sonderbarer Freundlichkeit handelte. Sie beschloss, vorsichtig zu reagieren. Wieder einmal hatte er ihr mit seiner Art die Hände gebunden.
Die anderen Schwestern der Finsternis verfolgten ihre eigenen Pläne. Soweit es Nicci anbetraf, war Richards Gabe wahrscheinlich das am wenigsten Bemerkenswerte und bei weitem Unbedeutendste an ihm, und doch spielte Liliana, eine seiner anderen Lehrerinnen und eine Frau von ebenso grenzenloser Gier wie begrenztem Scharfsinn, mit dem Gedanken, ihm die angeborene Fähigkeit seines Han für ihre eigenen Zwecke zu entwenden. Dies führte zu einer tödlichen Auseinandersetzung, aus der Liliana als Verliererin hervorging. Die sechs – ihre Anführerin Ulicia sowie Richards fünf übrige Lehrerinnen – kamen nach ihrer Entdeckung mit wenig mehr als dem nackten Leben davon, nur um schließlich in der Gewalt Jagangs zu enden.
Am Ende verstand Nicci diese Eigenschaft in seinen Augen nicht besser als damals, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Ihr war alles aus den Fingern geglitten.
Als Nicci ihren Griff vom nietenbesetzten Riemen um ihren Hals löste, lief das Mädchen augenblicklich ihre Mutter holen.
»Und?«, schrie Commander Kardeef. Er stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Seid Ihr mit Euren Spielereien fertig? Es wird Zeit, dass diese Leute die wahre Bedeutung des Wortes Skrupellosigkeit kennen lernen!«
Nicci blickte in seine unergründlichen dunklen Augen. Sie wirkten trotzig, zornig und entschlossen – und dennoch waren sie mit Richards Augen überhaupt nicht zu vergleichen.
Nicci wandte sich an die Soldaten. Gestikulierend rief sie: »Ihr zwei. Greift euch den Kommandanten.«