Im Augenblick war Nicci von Jagang befreit. Sie war umringt von zweitausend Soldaten, und doch fühlte sie sich vollkommen allein. Nicht lange, und sie würde sich nach Schmerzen sehnen, nur um diese entsetzliche Leere auszufüllen.
Sie empfand weder Freude noch Angst. Manchmal fragte sie sich, warum sie niemals etwas anderes spürte als den Wunsch, jemandem wehzutun.
Während die Kutsche mit rasender Geschwindigkeit auf Jagang zurollte, konzentrierten sich ihre Gedanken auf einen anderen Mann, und sie versuchte sich jede einzelne Begegnung mit ihm in Erinnerung zu rufen. In Gedanken ging sie jeden Augenblick durch, den sie in Richard Cyphers oder – wie er jetzt genannt wurde und wie Jagang ihn kannte – Richard Rahls Gegenwart verbracht hatte.
Sie musste an seine grauen Augen denken.
Bis zu dem Tag, da sie ihn kennen lernte, hatte sie die Existenz eines solchen Menschen nicht für möglich gehalten.
Wenn sie, wie jetzt, an Richard dachte, quälte sie nur ein einziges, brennendes Verlangen: ihn zu vernichten.
9
Riesige, grellbunte Zelte zierten den ins Auge fallenden Hügel draußen vor der Stadt Fairfield, und doch war dies, trotz all der festlichen Wimpel, trotz des Lachens, dem Gerufe, der derben Gesänge und der zügellosen Ausschweifungen keine Karnevalstruppe, die in die Stadt gekommen war, sondern eine Besatzungsarmee. Die Zelte des Kaisers und seines Gefolges waren nach Art jener Zelte gestaltet, wie sie einige der Nomadenvölker aus Jagangs Heimatland Altur’Rang verwendeten, doch hatte man sie weit über jede tatsächlich existierende Tradition hinaus mit Zierrat versehen. Der Kaiser, dessen Einfallsreichtum den eines jeden Nomadenstammeshäuptlings bei weitem übertraf, hatte, ganz nach Gutdünken, sein eigenes kulturelles Erbe geschaffen.
Um diese Prunkzelte herum hatten die Soldaten ihre eigenen kleinen schmutzbespritzten Zelte aufgestellt, die sich, soweit Niccis Augen reichten, über die Hügel und Täler erstreckten. Einige waren aus gewachstem Segeltuch, weitaus mehr bestanden aus Tierfellen. Über die ihnen allen gemeinsamen Grundzüge praktischer Verwendbarkeit hinaus bestand ihre Gemeinsamkeit lediglich im Fehlen jeder Ähnlichkeit mit irgendeinem Stil.
Vor einigen der schäbigen kleinen Zelte standen, fast ebenso groß wie diese, reich verzierte Polstersessel, die man als Beute aus der Stadt herbeigeschleppt hatte. Fast wirkte dieses Nebeneinander, als sei es mit Absicht wegen des komischen Effektes herbeigeführt worden, doch Nicci wusste, dass die Wirklichkeit nichts mit Humor zu tun hatte. Wenn die Armee schließlich weiterzog, waren solche in penibler Handarbeit hergestellten Gegenstände viel zu hinderlich, um sie mitzunehmen, und würden, den Unbilden des Wetters ausgesetzt, zurückgelassen werden, um zu verrotten.
Pferde wurden aufs Geratewohl angepflockt, und die eine oder andere Koppel enthielt manchmal sogar kleine Herden. Andere Einfriedungen enthielten einen lebenden Fleischvorrat. Einzelne Karren standen verstreut hie und da herum, scheinbar überall dort, wo sich ein leeres Plätzchen für sie fand, anderenorts wiederum standen sie Seite an Seite ausgerichtet. Viele gehörten Marketendern, andere waren mit allem Möglichen – von Grundnahrungsmitteln bis hin zu Schmiedegerät – beladene Karren der Armee. Die mitgeführten Belagerungsgerätschaften der Armee hatte man aufs Nötigste beschränkt, für diese Art von Waffen hatte man die mit der Gabe Gesegneten.
Düstere, tief liegende Wolken eilten über diese Szenerie dahin. Die feuchte Luft stank nach den Exkrementen von Mensch und Tier, im gesamten Umkreis waren die grünen Felder zu schlammigem Morast zerwühlt. Die zweitausend Soldaten, die mit Nicci zurückgekommen waren, waren von dem gewaltigen Heerlager aufgesogen worden wie ein kleiner Regenschauer von einem Sumpf.
Ein Armeelager der Imperialen Ordnung war ein Ort voller Lärm und scheinbarer Unordnung, und doch längst nicht so verworren, wie es vielleicht den Anschein hatte. Es existierte eine Befehlshierarchie, und es gab Dienste und Arbeiten, die verrichtet werden mussten. Da und dort arbeiteten Soldaten ganz für sich allein an ihrer Ausrüstung, ölten Waffen und Lederzeug oder wälzten ihre Kettenpanzer in Fässern mit Sand und Essig, um sie vom Rost zu befreien, während andere an Lagerfeuern Essen zubereiteten. Beschlagmeister versorgten die Pferde, Handwerker kümmerten sich um alles, von der Reparatur der Waffen über die Herstellung neuer Stiefel bis hin zum Zähneziehen. Geistliche jeglicher Couleur durchstreiften das Lager, nahmen sich der erschöpften Seelen an oder wehrten lästige Dämonen ab. Nach getaner Arbeit rotteten sich derbe Banden zusammen, um sich, gewöhnlich mit Spiel und Trinkgelagen, zu verlustieren. Manchmal wurden die Marketender in diese Ablenkungen einbezogen, manchmal die Gefangenen.
Selbst inmitten solcher Menschenmassen fühlte Nicci sich einsam und allein. Jagangs Abwesenheit in ihrem Verstand hinterließ ein Gefühl beunruhigender Abgeschiedenheit. Befand sich der Traumwandler in ihrem Verstand, ließen sich nicht einmal die intimsten Verrichtungen des Lebens – kein Gedanke, keine Handlung – geheim halten. Seine Anwesenheit lauerte in den dunklen Winkeln des Verstandes, von wo aus er alles beobachten konnte: jedes Wort, das man sprach, jeden Gedanken, den man hatte, jeden Bissen, den man zu sich nahm, jedes Räuspern, jedes Husten, jeden Besuch auf dem Abort. Man war nie allein. Niemals. Diese Vergewaltigung raubte einem alle Kraft, der Übergriff war vollkommen.
Das war es, woran die meisten Schwestern zerbrachen: dieses brutal Allumfassende, das Bewusstsein seiner unablässig beobachtenden Anwesenheit im eigenen Verstand. Fast schlimmer noch, die Wurzeln des Traumwandlers durchzogen einen durch und durch, und trotzdem wusste man nie, wann seine Aufmerksamkeit auf einen gerichtet war. Man bedachte ihn mit einem üblichen Schimpfwort, und es blieb unbemerkt, da seine Aufmerksamkeit woandershin gerichtet war. Ein anderes Mal kam einem vielleicht ein kurzer, intimer, gehässiger Gedanke über ihn, und er wusste davon im selben Augenblick, da man ihn dachte.
Wie viele der anderen Schwestern hatte Nicci gelernt, diese Wurzeln zu spüren und zu erkennen, wann sie, so wie jetzt, nicht vorhanden waren. Bei den anderen geschah das nie: Bei ihnen waren diese Wurzeln allgegenwärtig. Zwar kehrte Jagang stets irgendwann zurück, um seine Wurzeln erneut in ihr zu versenken, zurzeit aber war sie allein. Nur wusste sie nicht, warum.
Das Durcheinander aus Truppen und Lagerfeuern ließ keinen klar erkennbaren Weg für das Gespann, daher hatte Nicci ihre Kutsche stehen lassen, um den Rest des Weges, den Hügel hinauf, zu Fuß zurückzulegen. Das setzte sie den wollüstigen Blicken und lüsternen Zurufen der Soldaten aus, die den Hang bevölkerten. Vermutlich würde sie, bevor Jagang mit ihr fertig war, seitens der Soldaten noch ganz anderen Dingen ausgesetzt sein. Die meisten Schwestern wurden von Zeit zu Zeit zum Vergnügen der Soldaten zu den Zelten rausgeschickt. Entweder geschah dies, um sie zu bestrafen, oft aber auch nur, um ihnen zu zeigen, dass es einfach so, aus einer Laune heraus angeordnet werden konnte – damit sie nie vergaßen, dass sie Sklaven waren, nicht wertvoller als ein Gegenstand, den man besitzt.
Nicci jedoch war dem ausschließlichen Zeitvertreib des Kaisers und der eigens von ihm Auserwählten – wie Kadar Kardeef – vorbehalten. Viele Schwestern neideten ihr diesen Status, doch was immer sie darüber dachten, eine persönliche Sklavin Jagangs zu sein war alles andere als eine Gunst. Die Frauen wurden für eine bestimmte Zeit, vielleicht für ein oder zwei Wochen, in die Zelte geschickt, die übrige Zeit jedoch hatten sie weniger anspruchsvolle Pflichten, schließlich schätzte man sie wegen ihres geschickten Umgangs mit der Gabe. Für Nicci existierte eine derartige zeitliche Begrenzung nicht. Einmal hatte sie einige Monate völlig zurückgezogen in Jagangs Gemach verbracht, um ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit für sein Vergnügen zur Verfügung zu stehen. Die Soldaten genossen die Gesellschaft dieser Frauen, hatten jedoch bezüglich der Dinge, die sie ihnen antun durften, gewisse Einschränkungen zu beachten. Jagang und seine Kumpane erlegten sich keinerlei derartige Beschränkungen auf.