Выбрать главу

Ob berechtigt oder nicht, Jagang wurde gelegentlich wütend auf sie und kommandierte sie in seiner Erregung für einen Monat zu den Zelten ab – um ihr eine Lektion zu erteilen, wie er behauptete. Woraufhin Nicci sich gewöhnlich artig verneigte und feierlich versprach, es werde geschehen, wie er dies wünsche. Dass sie nicht bluffte, wusste er, es wäre eine geringere Tortur gewesen. Bevor sie sich durch die Tür und zu den Zelten aus dem Staub machen konnte, überlegte er es sich gewöhnlich anders, befahl ihr, zurückzukommen und ihm ins Gesicht zu sehen, und zog anschließend seine Befehle zurück.

Von Anfang an hatte Nicci sich nach und nach, Zoll für Zoll, eine gewisse Stellung und Freiheit erworben, wie man sie keiner der anderen Schwestern zugestand. Sie hatte es nicht ausdrücklich darauf angelegt; es war einfach geschehen. Jagang hatte ihr anvertraut, dass er die Gedanken der Schwestern lese, und diese sie insgeheim als Königin der Sklavinnen bezeichneten. Vermutlich erzählte Jagang ihr dies, um ihr auf seine Art eine Ehre zu erweisen, dabei hatte ihr der Titel ›Königin der Sklavinnen‹ stets ebenso wenig bedeutet wie ›Herrin des Todes‹.

Im Augenblick trieb sie einer leuchtenden Wasserlilie gleich auf dem dunklen Sumpf aus Soldaten. Andere Schwestern versuchten ebenso abgerissen auszusehen wie die Soldaten, um seltener bemerkt zu werden und weniger begehrenswert zu scheinen, doch sie täuschten sich nur selbst, denn sie lebten trotzdem in beständiger Angst, was Jagang ihnen antun mochte. Was geschah, geschah. Sie hatten weder eine andere Wahl noch irgendeinen Einfluss darauf.

Nicci war dies schlicht egal. Sie trug ihre eleganten schwarzen Kleider und ließ ihr langes Blondhaar, für alle sichtbar, unbedeckt. Meist tat sie, was sie wollte. Es war ihr gleichgültig, was Jagang ihr antat, und er wusste das. Ganz so, wie Richard ihr ein Rätsel war, war sie eines für Jagang.

Zumal Jagang von ihr fasziniert war. Bei aller Grausamkeit ihr gegenüber – stets war auch ein Funken Vorsicht mit im Spiel. Sie begrüßte es, wenn er ihr Schmerzen zufügte, sie hatte die brutale Behandlung verdient. Manchmal reichten die Schmerzen bis tief in die düstere Leere in ihrem Innern; gewöhnlich ließ er dann von ihr ab. Drohte er damit, sie umzubringen, wartete sie geduldig, ob es geschah, denn sie hatte es nicht verdient zu leben und wusste das; gewöhnlich nahm er daraufhin das Todesurteil zurück.

Die Tatsache, dass es ihr ernst war, war ihr Sicherheit und Risiko zugleich. Sie war ein Rehkitz unter Wölfen, dem die Hülle aus Gleichgültigkeit Sicherheit verlieh. Das Kitz geriet nur in Gefahr, wenn es die Flucht ergriff. Sie betrachtete ihre Gefangenschaft nicht als Widerspruch zu ihren Interessen, denn sie hatte keine. Immer wieder bot sich ihr Gelegenheit zu fliehen, doch sie tat es nicht. Vielleicht schlug dies Jagang mehr als alles andere in ihren Bann.

Manchmal schien er ihr den Hof zu machen. Sie wusste nicht, was ihn wirklich an ihr interessierte, versuchte auch nie, es herauszufinden. Manchmal gab er sich um sie besorgt, und ein paar Mal brachte er ihr so etwas Ähnliches wie Zuneigung entgegen. Dann wieder, wenn sie ihn wegen irgendeiner Pflicht verließ, schien er froh, sie los zu sein.

Sein Verhalten brachte sie auf die Idee, er könne vielleicht glauben, er sei in sie verliebt. So absurd ein solcher Gedanke auch sein mochte, ihr war es so oder so egal. Sie bezweifelte, dass sie zur Liebe fähig war, bezweifelte ernsthaft, dass Jagang überhaupt wusste, was das Wort bedeutete, von der Idee als solcher ganz zu schweigen.

Nicci kannte deren Bedeutung nur zu gut.

In der Nähe von Jagangs Zelt verstellte ihr ein Soldat den Weg. Er grinste blöde, es war als mit den Mitteln der Bedrohung vorgebrachte Aufforderung gemeint. Sie hätte ihn davon abbringen können, indem sie durchblicken ließ, dass Jagang sie erwartete, oder sie hätte ihre Kraft benutzen können, um ihn auf der Stelle niederzuschlagen, stattdessen starrte sie ihn einfach an. Das war nicht die Reaktion, die er sehen wollte; viele Soldaten sprangen nur dann auf einen Köder an, wenn er sich ängstlich wand. Als sie das nicht tat, nahm seine Miene einen verdrießlichen Ausdruck an. Er murmelte einen Fluch in ihre Richtung und entfernte sich.

Nicci hielt weiter auf das Zelt des Kaisers zu. Errichtet aus reizlosen Lammfellen ohne jeden Zierrat, waren Nomadenzelte aus Altur’Rang eigentlich eher klein und praktisch. Jagang hatte sie neu erschaffen, weitaus prächtiger als die Originale. Sein eigenes war eher oval als rund, drei Stangen anstelle der gebräuchlichen einen stützten das mehrspitzige Dach. Die Innenwände des Zeltes waren mit freundlich bestickten Stoffstreifen verziert. Der obere Rand der Seitenwände, dort, wo Dach und Wände sich berührten, war zum Beweis, dass man hier den Reisepalast des Kaisers vor sich hatte, mit faustgroßen, vielfarbigen Quasten und Wimpeln behängt. Banner und Fähnchen in leuchtend gelben und roten Farben hingen über dem Zelt schlaff in der abgestandenen, spätnachmittäglichen Luft.

Draußen klopfte eine Frau kleine, über einer der Zeltleinen hängende Teppichbrücken aus. Nicci hob den schweren, mit Goldschilden und getriebenen Rundbildern aus Silber, auf denen Schlachtszenen dargestellt waren, verzierten Türvorhang zur Seite. Drinnen waren Sklaven damit beschäftigt, die riesigen Teppichflächen zu fegen, das zarte Keramikgeschirr abzustauben, das überall auf reich verzierten Möbeln stand, und mit großem Getue die vielen hundert farbigen Kissen zu richten, die den Rand des Fußbodens säumten. Wandbehänge, üppig geschmückt mit traditionellen Mustern aus Altur’Rang, unterteilten den Innenraum in verschiedene Gemächer; oben ließen einige mit gazeähnlichem Stoff verhängte Öffnungen ein wenig Licht herein. Inmitten all des Lärms schufen die schweren Stoffe einen Ort der Stille. Lampen und Kerzen tauchten den ruhigen Raum in ein schummriges Licht.

Nicci erwiderte weder die Blicke der Wachen, die den Eingang auf der Innenseite flankierten, noch die der anderen, mit ihren häuslichen Pflichten beschäftigten Sklaven. In der Mitte des Wohngemaches stand Jagangs überladener, mit roten Seidenstoffen drapierter Sessel. Hier hielt er gelegentlich Audienzen ab, jetzt war der Sessel jedoch leer. Anders als andere Frauen, die Seine Exzellenz zu sich bestellt hatte, zögerte sie nicht, sondern näherte sich entschlossenen Schritts seinem Schlafgemach im rückwärtigen Teil.

Einer der Sklaven, ein beinahe nackter, dem Aussehen nach fast zwanzigjähriger Junge, war auf Händen und Knien liegend damit beschäftigt, den vor dem Eingang zum Schlafgemach ausgebreiteten Teppich mit einem kleinen Kleiderbesen abzubürsten. Ohne Nicci in die Augen zu sehen, richtete er ihr aus, dass Seine Exzellenz sich nicht in seinen Zelten aufhalte. Der junge Mann, Irvin, besaß die Gabe. Er hatte im Palast der Propheten gelebt, wo man ihn zum Zauberer ausgebildet hatte. Jetzt pflegte er die Teppichfransen und leerte Bettgeschirre. Niccis Mutter wäre stolz auf ihn gewesen.

Jagang konnte sich an den verschiedensten Orten aufhalten; er konnte fortgegangen sein, um mit seinen Soldaten zu trinken und zu spielen, er konnte seine Truppen inspizieren oder die Handwerker, die ihnen zur Verfügung standen. Vielleicht nahm er die frischen Gefangenen in Augenschein und wählte jene aus, die er für sich selbst beanspruchte; möglicherweise unterhielt er sich auch gerade mit Kardeefs Stellvertreter.

Nicci sah mehrere Schwestern in einer Ecke kauern. Wie sie selbst, so waren auch sie Jagangs Sklavinnen. Als sie sich den drei Frauen näherte, fiel ihr auf, dass sie mit Nähen beschäftigt waren und ein Stück der Zeltausrüstung flickten.

»Schwester Nicci!« Schwester Georgia sprang auf, und ein Ausdruck der Erleichterung ging über ihr Gesicht. »Wir wussten nicht, ob Ihr lebendig seid oder tot, so lange haben wir Euch nicht gesehen. Wir dachten, Ihr wärt vielleicht untergetaucht.«

Da Nicci eine Schwester der Finsternis war und dem Hüter der Unterwelt verschworen, empfand sie die Besorgnis dreier Schwestern des Lichts als ein wenig unaufrichtig. Nicci vermutete, dass sie ihre Gefangenschaft als etwas Verbindendes und ihre diesbezüglichen Gefühle als höher stehend betrachteten, so dass sie ihre grundlegenderen Streitereien überwanden. Außerdem wussten sie, dass Jagang anders mit ihr umsprang; wahrscheinlich waren sie geradezu versessen darauf, dass man sie für freundlich hielt.