Nicci konnte förmlich sehen, wie die drei sich fragten, ob Jagang ihren Worten lauschte. Aber wenn die Magie wieder zur Normalität zurückgekehrt war, müsste Jagang in Niccis Verstand lauern, doch das war nicht der Fall. Sie fühlte den Funken möglichen Begreifens aufleuchten und wieder erlöschen. »Der Prälatin ist also ein grober Fehler unterlaufen, und Jagang hat sie gefangen genommen.«
»Nun … nicht ganz«, sagte Schwester Rochelle.
»Schwester Georgia hat die Wachen geholt. Wir haben sie verraten, wie es unsere Pflicht war.«
Nicci brach in schallendes Gelächter aus. »Ihre eigenen Schwestern des Lichts? Welche Ironie! Sie riskiert, während die Chimären die Magie ausgesetzt haben, ihr Leben, um hierher zu kommen und Eure wertlose Haut zu retten, und anstatt mit ihr zu fliehen, liefert Ihr sie aus. Wie passend!«
»Das mussten wir doch!«, protestierte Schwester Georgia. »Seine Exzellenz hätte es so gewollt. Unsere Aufgabe ist es, zu dienen. Wir sind nicht so dumm, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Wir wissen, was sich für uns geziemt.«
Nicci ließ den Blick über die angespannten Gesichter schweifen, die Gesichter jener Frauen, die dem Licht des Schöpfers die Treue geschworen hatten, diese Schwestern des Lichts, die Hunderte von Jahren in seinem Namen gearbeitet hatten. »Ja, das tut Ihr.«
»Ihr hättet Euch ebenso verhalten«, schnauzte Schwester Aubrey sie an. »Wir mussten so handeln, sonst hätte Seine Exzellenz es an den anderen ausgelassen. Es war unsere Pflicht gegenüber dem Wohl der anderen – und dazu gehört auch Ihr, wie ich hinzufügen möchte. Wir durften nicht einfach an uns selber oder an Ann denken, sondern mussten überlegen, was für alle das Beste ist.«
Nicci spürte, wie die dumpfe Gleichgültigkeit sie zu ersticken drohte. »Schön, dann habt Ihr also die Prälatin verraten.« Nur ein Funken Neugier war ihr noch geblieben. »Aber wie kommt Ihr auf die Idee, dass sie mit Euch für immer hätte entkommen können? Sie muss doch irgendeinen Plan bezüglich der Chimären gehabt haben. Was, glaubte sie, würde geschehen, sobald Jagang erneut Zugang zu Eurem – und ihrem – Verstand bekommen hätte?«
»Seine Exzellenz ist stets mit uns«, beharrte Schwester Aubrey. »Ann wollte uns mit ihren albernen Ideen nur etwas einreden. So dumm sind wir nicht. Und alles Übrige war auch nichts weiter als Trick. Wir waren zu gerissen für sie.«
»Alles Übrige? Wie lautete der Rest des Plans?«
Schwester Georgia machte ihrer Empörung Luft. »Sie hat versucht, uns Dummheiten über irgendwelche Bande zu Lord Rahl einzureden.«
Nicci schloss halb die Augen, ganz darauf konzentriert, gleichmäßig weiterzuatmen. »Bande? Was ist das jetzt wieder für ein Unsinn, den Ihr da redet?«
Schwester Georgia sah Nicci ganz offen in die Augen. »Sie beteuerte beharrlich, wenn wir Richard die Treue schwörten, würde uns das beschützen. Sie behauptete, er sei durch irgendeinen Zauber im Stande, Jagang von unserem Verstand fern zu halten.«
»Wie das?«
Schwester Georgia zuckte mit den Achseln. »Sie behauptete, diese Sache mit den Banden schütze den Verstand der Menschen vor Traumwandlern. Aber so leichtgläubig sind wir nicht.«
Nicci presste ihre Hände auf die Oberschenkel, um ihre Finger ruhig zu halten. »Das verstehe ich nicht. Wie soll denn so was funktionieren?«
»Sie machte eine Andeutung, es sei ein Erbe seiner Vorfahren. Sie behauptete, wir brauchten nichts weiter zu tun, als ihm die Treue zu schwören, und zwar von ganzem Herzen – oder irgend so einen Unfug. Um ehrlich zu sein, es war so lächerlich, dass ich gar nicht richtig hingehört habe. Angeblich sei das auch der Grund, weshalb Jagang nicht in ihren Verstand eindringen kann.«
Es traf Nicci wie ein Schlag. Natürlich…
Sie hatte sich stets gefragt, warum Jagang nicht auch die übrigen Schwestern gefangen nahm. Noch immer gab es viele andere, die in Freiheit lebten und durch diese Bande zu Richard geschützt wurden. Es musste einfach stimmen, denn es klang durchaus logisch. Ihre eigene Anführerin, Schwester Ulicia, und die anderen Ausbilderinnen von Richard waren ebenfalls entkommen. Doch das schien keinen Sinn zu ergeben; sie waren – wie Nicci – Schwestern der Finsternis und hätten Richard die Treue schwören müssen. Ein solches Verhalten war für Nicci unvorstellbar.
Andererseits war Jagang oft nicht im Stande, in Niccis Verstand einzudringen.
»Ihr sagtet, Schwester Alessandra sei verschwunden.«
Schwester Georgia nestelte nervös am Kragen ihres schäbigen Kleides. »Beide sind verschwunden, sie und Ann.«
»Jagang wird sich kaum die Mühe machen, Euch über sein Tun zu unterrichten. Vielleicht hat er sie einfach umbringen lassen.«
Georgias Blick zuckte zu ihren Gefährtinnen hinüber.
»Nun … das wäre möglich. Aber Schwester Alessandra war eine von Euren … eine Schwester der Finsternis. Sie war besorgt um Ann…«
»Wieso wart Ihr nicht um sie besorgt? Ihr seid doch ihre Schwestern.«
Schwester Georgia räusperte sich. »Sie geriet über uns dermaßen in Wut, dass Seine Exzellenz Schwester Alessandra den Auftrag gab, nach ihr zu sehen.«
Nicci konnte sich vorstellen, dass es sich um einen ziemlich heftigen Wutanfall gehandelt haben musste. Aber nach dem Verrat durch ihre eigenen Schwestern war das nur zu gut verständlich. Jagang musste die Frau für so wertvoll gehalten haben, dass er sie am Leben ließ.
»Als wir in die Stadt einmarschierten, wurde Anns Wagen gar nicht mehr gesehen«, fuhr Schwester Georgia fort. »Einer der Fahrer kam schließlich mit blutverschmiertem Schädel zu sich und berichtete, das Letzte, was er gesehen habe, bevor es um ihn dunkel wurde, sei Schwester Alessandra gewesen. Und jetzt sind beide verschwunden.«
Nicci spürte, wie ihre Fingernägel sich in die Handflächen gruben. Sie zwang sich, ihre Fäuste zu entspannen. »Also, Ann hat Euch allen die Freiheit angeboten, und Ihr habt Euch stattdessen entschieden, Euer Sklavendasein fortzusetzen.«
Die drei Frauen reckten die Nasen in die Luft. »Wir haben getan, was für alle das Beste ist«, sagte Schwester Georgia. »Wir sind Schwestern des Lichts. Unsere Pflicht gilt nicht uns selbst, sondern besteht darin, das Leiden anderer zu lindern – nicht, es erst hervorzurufen.«
»Im Übrigen«, setzte Schwester Aubrey hinzu, »können wir nicht erkennen, dass Ihr fortgeht. Wie es scheint, seid Ihr von Zeit zu Zeit von Seiner Exzellenz befreit gewesen, und doch geht Ihr nicht fort.«
Nicci runzelte die Stirn. »Woher wisst Ihr das?«
»Nun, ich, ich meinte…«, stammelte Schwester Aubrey.
Nicci packte die Frau bei der Kehle. »Ich habe Euch etwas gefragt. Antwortet.«
Schwester Aubreys Gesicht lief rot an, als Nicci ihren Griff mit der Kraft ihrer Gabe verstärkte. Die Anstrengung ließ die Sehnen ihres Handgelenks vortreten. Die Augen der Frau wurden rundum weiß, als Nicci begann, ihr mit ihrer Kraft das Leben aus dem Leib zu pressen. Anders als bei Nicci, kontrollierte Jagang ihren Verstand, und es war ihnen untersagt, außer auf seine ausdrückliche Anordnung von ihrer Kraft Gebrauch zu machen.
Schwester Georgia legte sachte eine Hand auf Niccis Unterarm. »Seine Exzellenz hat uns dazu befragt, das ist alles, Schwester. Lasst sie los, ich bitte Euch.«
Nicci gab die Frau frei, richtete ihren wütenden Blick jedoch auf Schwester Georgia. »Euch befragt? Was meint Ihr damit? Was hat er gesagt?«
»Er wollte einfach wissen, ob wir wüssten, warum er gelegentlich von Eurem Verstand ausgesperrt ist.«
»Er hat uns gequält«, sagte Schwester Rochelle. »Er hat uns mit seinen Fragen gequält, weil wir keine Antwort wussten. Wir verstehen das alles nicht.«
Nicci dagegen begriff zum allerersten Mal.
Schwester Aubrey rieb sich den Hals. »Was ist so Besonderes an Euch, Schwester Nicci? Warum interessiert sich Seine Exzellenz so sehr für Euch? Wie kommt es, dass Ihr ihm widerstehen könnt?«
Nicci machte kehrt und wandte sich zum Gehen. »Vielen Dank für Eure Hilfe, Schwestern.«