»Wenn Ihr Euch von ihm befreien könnt, warum geht Ihr dann nicht fort?«, rief Schwester Georgia ihr nach.
An der Tür drehte Nicci sich um. »Es macht mir Spaß zu sehen, wie Jagang Euch Hexen des Lichts quält. Ich bleibe hier, damit ich dabei zusehen kann.«
Ihre Unverschämtheit ließ sie ungerührt – sie waren daran gewöhnt.
»Schwester Nicci«, sagte Rochelle und strich sich das widerspenstige Haar aus der Stirn. »Was habt Ihr eigentlich angestellt, dass Seine Exzellenz so wütend ist?«
»Was? Ach, das. Nichts von Bedeutung. Ich habe Commander Kardeef von den Soldaten an eine Stange binden und über einem Feuer rösten lassen.«
Den dreien verschlug es den Atem, während sie sich wie ein Mann strafften. Sie erinnerten Nicci an drei Eulen auf einem Ast.
Schwester Georgia fixierte Nicci mit grimmigem, zornentbranntem Blick, ein seltenes Aufflackern der Autorität ihres höheren Alters.
»Ihr verdient alles, was Jagang Euch antut, Schwester – und was Euch der Hüter antun wird.«
Lächelnd erwiderte Nicci: »Ja, das ist wahr.« Dann zog sie den Kopf ein und verschwand durch die Zeltöffnung.
10
In der Stadt Fairfield war wieder so etwas wie Ordnung eingekehrt, allerdings die Ordnung eines Militärpostens. Kaum etwas, von dem sich sagen ließe, es mache eine Stadt aus, hatte sich gehalten. Viele der Gebäude standen noch, doch von den Menschen, die einst in ihnen gewohnt und gearbeitet hatten, gab es nur noch wenige. Von einigen Gebäuden war nicht mehr übrig als verkohltes Gebälk und rußgeschwärzter Schutt, andere waren abgetakelte Kolosse mit herausgebrochenen Fenstern und Türen, die meisten jedoch befanden sich noch weitgehend im selben Zustand wie zuvor, bis natürlich auf den Umstand, dass alle im Zuge der mutwilligen Plünderungen ausgeräumt worden waren. Die Gebäude standen da wie leere Hüllen, nicht mehr als eine Mahnung an früheres Leben.
Da und dort hockten ein paar zahnlose Gestalten breitbeinig an eine Mauer gelehnt und beobachteten aus leeren Augen die Massen bewaffneter Soldaten, die durch ihre Straßen auf und ab flanierten; Waisenkinder streunten verstört umher. Nicci fand es erstaunlich, wie schnell man einen Ort jeder Zivilisiertheit berauben konnte.
Während sie so durch die Straßen schlenderte, glaubte Nicci zu verstehen, was viele der Gebäude empfinden würden, wären sie zu Empfindungen fähig; eine allen Lebens beraubte Leere, während sie nutzlos darauf warteten, dass jemand erschien, dem sie von Nutzen sein konnten, da ihr einzig wahrer Zweck darin bestand, den Lebenden zu dienen.
Die Straßen, derzeit bevölkert von grimmig dreinblickenden Soldaten, hageren Bettlern, ausgezehrten Alten und Kranken, weinenden Kindern, alle inmitten von Trümmerschutt und Dreck, sahen noch ganz so aus wie einige jener Straßen, an die Nicci sich aus ihrer Kinderzeit erinnerte. Ihre Mutter hatte sie oft nach draußen auf Straßen wie diese geschickt, um sich der Bedürftigen anzunehmen.
»Schuld daran sind Männer wie dein Vater«, hatte ihre Mutter damals gesagt. »Er ist genau wie mein Vater damals war, er kennt kein Gefühl und kümmert sich um niemand anderes als sich selbst. Er hat kein Herz.«
Nicci hatte in ihrem frisch gewaschenen blauen Rüschenkleid dagestanden, das Haar gebürstet und nach hinten gesteckt, die Hände an den Seiten, und hatte zugehört, wie ihre Mutter einen Vortrag über Gut und Böse hielt, über Sünde und Erlösung. Nicci hatte nicht viel davon begriffen, in späteren Jahren sollte er jedoch so oft wiederholt werden, bis sie jedes einzelne Wort, jeden Gedanken und jede traurige Wahrheit auswendig kannte.
Niccis Vater war wohlhabend. Schlimmer war nach Meinung ihrer Mutter, dass er deswegen keine Reue empfand. Ihre Mutter erklärte, Eigensucht und Habgier seien wie die beiden Augen eines bösartigen Ungeheuers, die stets nach immer größerer Macht und noch mehr Reichtum Ausschau hielten, um so dessen unersättliche Gier zu stillen.
»Du musst lernen, Nicci, dass der tugendhafte Lebenswandel eines Menschen in diesem Leben darauf abzielt, anderen zu helfen, nicht sich selbst«, erklärte ihre Mutter. »Mit Geld kann man sich den Segen des Schöpfers nicht erkaufen.«
»Aber wie können wir dem Schöpfer denn zeigen, dass wir gut sind?«, fragte Nicci.
»Die Menschen sind ein jämmerlicher Haufen, unwürdig, fehlerhaft und schlecht. Wir müssen gegen unsere verdorbene Natur ankämpfen. Anderen zu helfen ist die einzige Möglichkeit, die Nützlichkeit der eigenen Seele zu beweisen. Es ist das einzig wirklich Gute, zu dem ein Mensch fähig ist.«
Niccis Vater war als Adliger geboren worden, trotzdem hatte er sein ganzes Erwachsenenleben als Waffenschmied gearbeitet. Niccis Mutter war der Ansicht, er sei mit einem komfortablen Besitz zur Welt gekommen, doch statt sich damit zufrieden zu geben, trachtete er danach, sein Erbe zu einem schamlosen Vermögen zu mehren. Sie sagte, man könne nur zu Reichtum kommen, wenn man die Armen auf die eine oder andere Weise betrog. Andere Angehörige des Adelsstands, wie Niccis Mutter und viele ihrer Freunde, waren nicht gewillt, den hart schuftenden Armen einen unverdienten Anteil abzupressen.
Nicci empfand ein großes Maß an Schuld angesichts der Verruchtheit ihres Vaters und seines unrechtmäßig erworbenen Reichtums. Ihre Mutter behauptete, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um seine verirrte Seele zu retten. Um die Seele ihrer Mutter sorgte sich Nicci nie, denn die Menschen wurden nicht müde zu erzählen, wie fürsorglich, gutherzig und wohltätig sie sei, manchmal jedoch lag Nicci nachts aus Kummer über ihren Vater wach, denn die Sorge, der Schöpfer könnte seine Bestrafung verlangen, bevor er erlöst werden konnte, ließ sie nicht schlafen.
Wenn Mutter zu Treffen mit ihren wichtigen Freunden ging, nahm das Kindermädchen Nicci des Öfteren zur Werkstatt ihres Vaters mit, um sich nach seinen Wünschen für das Abendessen zu erkundigen. Nicci genoss es, im Betrieb ihres Vaters zuzusehen und etwas zu lernen. Es war ein faszinierender Ort. Als sie noch sehr klein war, wollte sie, wenn sie einmal groß wäre, ebenfalls Waffenschmied werden. Zu Hause hockte sie gewöhnlich auf dem Fußboden und hämmerte im Spiel auf einem den Teil einer Rüstung darstellenden Kleidungsstück herum, das über einem umgedrehten Schuh lag, der als Amboss diente. Diese Zeit der Unschuld war die angenehmste Erinnerung aus ihrer Kindheit.
Niccis Vater beschäftigte eine große Zahl von Menschen. Karren brachten Vierkanthölzer und anderes Material von entlegenen Orten. Schwere, aus Metall gegossene Sägen wurden auf Lastkähnen angeliefert. Andere Karren, mit Geleitschutz, transportierten fertige Waren zu weit entfernten Kunden. Es gab Arbeiter, die Metall schmiedeten, Arbeiter, die Metall gossen, Arbeiter, die es in Form hämmerten, und wieder andere, die aus glühendem Metall Waffen formten. Einige der Klingen wurden aus kostbarem ›Giftstahl‹ hergestellt, der angeblich selbst bei kleinsten Verletzungen tödliche Wunden hinterließ. Es gab andere Arbeiter, die Klingen schliffen, Arbeiter, die Rüstungen polierten, und solche, die Schilde, Rüstungen und Klingen mit wunderschönen Gravuren und kunstvollen Illustrationen versahen. Es gab sogar Frauen, die für Niccis Vater arbeiteten und die bei der Herstellung von Kettenpanzern halfen. Nicci schaute ihnen zu, wie sie auf Bänken an langen Holztischen saßen, manchmal die Köpfe zusammensteckten und über irgendwelche Geschichten kicherten, während sie mit ihren Pinzetten winzige Häkchen am abgeflachten Ende Tausender kleiner Stahlringe zurechtbogen, aus denen schließlich eine komplette Kettenpanzerrüstung entstand. Nicci fand es erstaunlich, dass der Erfindungsgeist des Menschen etwas so Hartes wie Metall in ein Kleidungsstück verwandeln konnte.
Aus dem gesamten Umland und auch von weit her kamen Männer, um die Waffen und Rüstungen ihres Vaters zu kaufen. Ihr Vater behauptete, es seien die besten, die hergestellt wurden. Seine Augen, von der Farbe des Himmels an einem wolkenlosen Sommertag, begannen eigenartig zu leuchten, wenn er von seinen Waffen und Rüstungen erzählte. Vieles davon war so prachtvoll, dass Könige von weit her angereist kamen, um eine Rüstung zu bestellen und anpassen zu lassen. Manches war so kunstvoll gemacht, dass erfahrene Arbeiter viele Monate über die Werkbänke gebeugt daran zu arbeiten hatten.