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Niccis Vater machte einfach kehrt und ging zur Tür. Als er plötzlich Nicci auf dem Boden sitzen sah, die alles mitbekommen hatte, hielt er inne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr Angst, nicht weil er verärgert oder wütend war, sondern weil er mit seinen Augen ganz offensichtlich so viel sah und ihn das Unvermögen, jemals die richtigen Worte dafür zu finden, zu erdrücken schien. Nicci großzuziehen war die Aufgabe ihrer Mutter, und er hatte ihr versprochen, sich nicht einzumischen.

Er wischte sich seine blonden Haare aus der Stirn, machte kehrt und holte seine Jacke. In ruhigem, vernünftigem Ton sagte er, an Niccis Mutter gewandt, er werde jetzt gehen und nach einigen Dingen bei der Arbeit sehen.

Nachdem er gegangen war, sah auch ihre Mutter, wie sie vergessen auf dem Boden hockte, mit Perlen auf einem Brett spielte und so tat, als stelle sie Kettenhemden her. Mit verschränkten Armen blieb sie lange über Nicci stehen.

»Dein Vater geht zu Huren, weißt du das? Ich bin sicher, er ist auch jetzt zu einer Hure gegangen. Vielleicht bist du noch zu jung, um zu verstehen, trotzdem will ich, dass du es weißt, damit du ihm niemals Glauben schenkst. Er ist ein schlechter Mensch. Ich weigere mich, seine Hure zu sein. Und jetzt leg deine Sachen fort und begleite deine Mutter, ich gehe meine Freunde besuchen. Es wird Zeit, dass du dich weiter entwickelst und endlich von der Not anderer erfährst, statt dich ausschließlich um deine eigenen Bedürfnisse zu kümmern.«

Im Haus ihrer Freundin hatten sich einige Männer und mehrere Frauen eingefunden, die sich mit ernster Stimme unterhielten. Als sie sich höflich nach ihrem Vater erkundigten, berichtete Niccis Mutter, er sei fortgegangen, »um zu arbeiten oder herumzuhuren, was, weiß ich nicht, ich habe auf beides keinen Einfluss«. Einige der Frauen legten ihr daraufhin eine Hand auf den Arm und versuchten sie zu trösten. Sie habe eine fürchterliche Last zu tragen, sagten sie.

Auf der anderen Zimmerseite saß ein schweigsamer Mann, der Nicci so düster wie der Tod selbst vorkam.

Niccis Vater war schnell vergessen, als ihre Mutter sich in die Diskussion vertiefte, die ihre Freunde über die schrecklichen Lebensbedingungen der Menschen in der Stadt führten. Die Menschen litten unter Hunger, Verletzungen, Siechtum und Krankheiten, mangelnder Ausbildung, Arbeitslosigkeit, zu vielen Mäulern, die gestopft werden wollten, Alten, die versorgt werden mussten, fehlender Bekleidung, keinem Dach über dem Kopf und jeglichen nur erdenklichen Unbilden ihrer Situation. Es war alles schrecklich beängstigend.

Nicci war stets ganz bange zumute, wenn ihre Mutter davon sprach, dass es nicht mehr länger so weitergehen könne und etwas geschehen müsse. Sie wünschte sich, jemand würde endlich damit anfangen und es tun.

Aufmerksam hörte Nicci zu, wie die Glaubensfreunde ihrer Mutter über all die unduldsamen Menschen redeten, die Hass in ihrem Herzen trugen. Nicci hatte Angst, selbst als einer dieser schrecklichen Menschen zu enden. Sie wollte nicht, dass der Schöpfer sie wegen Kaltherzigkeit bestrafen musste.

Lang und breit ließen sich Niccis Mutter und ihre Freunde darüber aus, wie sehr ihnen die Probleme überall zu Herzen gingen. Hatte jemand vorgetragen, was ihn bedrückte, warf er gewöhnlich sogleich einen verstohlenen Blick hinüber zu dem Mann, der ernst auf einem einfachen Stuhl an der Wand saß und sie aus aufmerksamen, dunklen Augen beim Gespräch beobachtete.

»Einfach grauenhaft, was alles kostet«, sagte ein Mann mit schlaffen Lidern. Er hockte, in sich zusammengesunken wie ein Haufen schmutziger Wäsche, in seinem Sessel. »Das ist ungerecht. Es dürfte nicht erlaubt sein, dass jeder, wann immer es ihm beliebt, die Preise erhöhen kann. Der Herzog sollte etwas unternehmen. Der König hört auf ihn.«

»Der Herzog…«, sagte Niccis Mutter. Sie nippte an ihrem Tee. »Ja, ich war stets der Meinung, dass der Herzog ein Mann ist, der einer guten Sache aufgeschlossen gegenübersteht. Ich denke, man könnte ihn überreden, vernünftige Gesetze zu erlassen.« Über den goldenen Rand ihrer Tasse hinweg blickte Niccis Mutter hinüber zu dem Mann auf dem Küchenstuhl.

Eine der Frauen erklärte, sie wolle ihren Mann dazu ermuntern, dem Herzog den Rücken zu stärken. Eine andere regte an, ihrer aller Sympathie für diesen Einfall in einem entsprechenden Schreiben zu bekunden.

»Menschen verhungern«, sagte eine runzelige Frau in eine Gesprächspause hinein. Die Leute beeilten sich, ihr murmelnd beizupflichten, so als sei dies ein Regenschirm, unter den man sich in der alles durchdringenden Stille flüchten konnte. »Ich sehe es jeden Tag. Wenn wir wenigstens einigen dieser Unglücklichen helfen könnten.«

Eine der anderen Frauen plusterte sich auf wie eine Henne, die im Begriff ist, ein Ei zu legen. »Einfach schrecklich, dass niemand ihnen Arbeit geben will, wo es doch genug davon gäbe, wenn man sie nur gerecht verteilte.«

»Ich weiß«, erwiderte Niccis Mutter empört mit der Zunge schnalzend. »Bis zum Schwarzwerden habe ich auf Howard eingeredet. Er stellt ausschließlich Leute ein, die ihm gefallen, statt sich derer anzunehmen, die die Arbeit am dringendsten benötigen. Es ist eine Schande.«

Die anderen bekundeten ihr Mitgefühl mit ihrer schweren Bürde.

»Es ist nicht richtig, dass einige wenige so viel mehr besitzen als sie brauchen, während es bei so vielen anderen kaum zum Leben reicht«, meinte der Mann mit den schlaffen Lidern. »Das ist unmoralisch.«

»Der Mensch hat nicht das Recht, um seiner selbst willen zu existieren«, beeilte sich Niccis Mutter einzuwerfen, wobei sie, an einem Stück trockenen Kuchens knabbernd, den grimmig schweigenden Mann ansah. »Unentwegt versuche ich Howard davon zu überzeugen, dass Selbstaufopferung zum Wohl seiner Mitmenschen die höchste moralische Pflicht des Menschen ist und sein einziger Daseinszweck. Zu diesem Behufe«, verkündete Niccis Mutter, »habe ich beschlossen, fünfhundert Goldkronen für unsere Sache zu spenden.«

Den anderen stockte vor Entzücken der Atem, und sie beglückwünschten Niccis Mutter zu ihrem wohltätigen Wesen. Sich verstohlen im Raum umsehend, kamen sie überein, der Schöpfer werde es ihr im nächsten Leben vergelten, und unterhielten sich darüber, was sie alles würden tun können, um diesen weniger vom Glück begünstigten Seelen zu helfen.

Schließlich drehte Niccis Mutter sich um, betrachtete Nicci eine Weile und sagte: »Ich glaube, meine Tochter ist alt genug zu lernen, wie man anderen hilft.«

Nicci, begeistert von der Vorstellung, endlich mit dem beginnen zu können, was ihre Mutter und ihre Freunde als ehrenvolle Tätigkeit bezeichneten, rutschte begeistert auf ihrem Stuhl nach vorn. Es war, als habe ihr der Schöpfer selbst einen Weg zur Seelenrettung aufgezeigt. »Ich möchte so gern Gutes tun, Mutter.«

Ihre Mutter blickte den Mann auf dem Küchenstuhl fragend an. »Bruder Narev?«

Die tiefen Falten seines Gesichts schoben sich zu beiden Seiten, als ein Lächeln den dünnen Strich seines Mundes dehnte. Es hatte nichts Freudiges, ebenso wenig wie die dunklen Augen unter der von einem Gewirr aus weißen und schwarzen Haaren verdeckten Stirn. Er trug eine gekniffte Kappe und ein schweres Gewand, so dunkel wie trockenes Blut. Locken seines drahtigen Haars kräuselten sich über seinen Ohren um den Rand der tief in die Stirn gezogenen Kappe.

Er strich sich mit dem Finger übers Kinn und sprach mit einer Stimme, die beinahe die Teetassen klirren ließ. »So, du möchtest also eine kleine Soldatin werden, mein Kind?«

»Na ja … das eigentlich nicht, Sir.« Nicci wusste nicht, was das Soldatsein damit zu tun hatte, dass man Gutes tat. Ihre Mutter sagte immer, ihr Vater sei der willfährige Gehilfe von Menschen in einem gottlosen Beruf – von Soldaten. Sie sagte, Soldaten hätten immer nur eines im Sinn, das Töten. »Ich möchte den Bedürftigen helfen.«

»Genau das versuchen wir doch alle, Kind.« Das schauerliche Grinsen blieb auf seinem Gesicht zurück, als er weitersprach. »Wir alle hier sind Soldaten der Bruderschaft – der Bruderschaft des Ordens –, wie wir unsere kleine Gruppe nennen. Soldaten im Kampf für Gerechtigkeit.«