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Alle schienen zu eingeschüchtert, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Sie riskierten einen flüchtigen Blick, sahen fort, blickten wieder hin, so als sei sein Gesicht nicht dafür bestimmt, mit einem Mal erfasst zu werden, sondern nur in kleinen Zügen, wie eine siedend heiße, übel schmeckende Medizin.

Die braunen Augen ihrer Mutter huschten nervös umher wie eine Kakerlake auf der Suche nach einer Ritze. »Aber gewiss doch, Bruder Narev. Das ist die einzig moralische Art, Soldat zu sein – als wohltätiger Mensch.« Sie drängte Nicci, aufzustehen, und scheuchte sie nach vorn. »Nicci, Bruder Narev hier ist ein bedeutender Mann. Er ist der Hohepriester der Bruderschaft des Ordens – einer uralten Sekte, die sich dem Willen des Schöpfers in dieser Welt verschrieben hat. Bruder Narev ist ein Hexenmeister.« Sie bedachte ihn mit einem Lächeln. »Bruder Narev, das ist meine Tochter Nicci.«

Die Hände ihrer Mutter schoben sie zu dem Mann hin, als sei sie eine Opfergabe an den Schöpfer. Im Gegensatz zu allen anderen konnte Nicci den Blick nicht von seinen halb geöffneten Augen lassen. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.

In ihnen war nichts als dunkle, kalte Leere.

Er reichte ihr eine Hand. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Nicci.«

»Mach einen Knicks und küsse ihm die Hand, Liebes«, soufflierte ihre Mutter.

Nicci ging auf ein Knie. Sie küsste die Knöchel, damit ihre Lippen nicht mit dem Geflecht aus aufgedunsenen, dicken blauen Venen in Berührung kamen, das den haarigen, vor ihrem Gesicht schwebenden Handrücken überzog. Die weißlichen Knoten waren kalt, wenn auch nicht eisig, wie sie erwartet hatte.

»Wir heißen dich in unserer Bewegung willkommen, Nicci«, sagte er mit der tiefen, rasselnden Stimme, die ihm eigen war. »Wenn deine Mutter dich mit fürsorglicher Hand großzieht, wirst du das Werk des Schöpfers tun, das weiß ich.«

Nicci dachte, dass der Schöpfer diesem Mann sehr ähnlich sein musste.

Von all den Dingen, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, fürchtete Nicci am meisten den Zorn des Schöpfers. Sie war alt genug, um zu wissen, dass sie anfangen musste, all die guten Werke zu tun, von denen ihre Mutter unentwegt redete, wenn sie eine Chance haben wollte, ihr Seelenheil zu finden. Alle redeten davon, wie fürsorglich und tugendhaft ihre Mutter war. Nicci wollte ebenfalls ein guter Mensch werden.

Doch Gutes zu tun schien so schwierig, so ernst – ganz anders als die Arbeit ihres Vaters, wo die Menschen lächelten und lachten und mit den Händen redeten.

»Danke, Bruder Narev«, sagte Nicci. »Ich werde mein Bestes tun, um Gutes in der Welt zu tun.«

»Eines Tages werden wir mit Hilfe so prächtiger junger Menschen wie dir die Welt verändern. Ich gebe mich keinen Illusionen hin; angesichts des Ausmaßes der Gleichgültigkeit unter den Menschen wird es eine Weile dauern, die Herzen wahrhaft Bekehrter zu gewinnen, aber wir in diesem Zimmer hier bilden gemeinsam mit den anderen Gleichgesinnten überall im Land den Grundstein der Hoffnung.«

»Dann ist die Bruderschaft also geheim?«, fragte Nicci flüsternd.

Alles lachte amüsiert in sich hinein. Bruder Narev lachte nicht, sein Mund lächelte wieder. »Nein, Kind, ganz im Gegenteil. Es ist unser inbrünstiger Wunsch und höchstes Ziel, die Wahrheit über die Verderbtheit der Menschen zu verbreiten. Der Schöpfer ist vollkommen, wir Sterbliche sind nichts weiter als bedauernswerte Kreaturen. Wir müssen die Verderbtheit unseres Wesens erkennen, wenn wir darauf hoffen wollen, seinem gerechten Zorn zu entgehen und in der nächsten Welt Erlösung zu erlangen. Selbstaufopferung für das Wohl aller ist der einzige Weg zum Seelenheil. Unsere Bruderschaft steht allen offen, die bereit sind, von sich zu geben und ein sittliches Leben zu führen. Die meisten Menschen nehmen uns nicht ernst. Eines Tages werden sie es.«

In gespannter, stiller Aufmerksamkeit verfolgte man im ganzen Zimmer mit glänzenden Augen, wie seine tiefe, kräftige Stimme anschwoll, als spreche der Zorn des Schöpfers selbst aus ihr.

»Einst wird der Tag kommen, da die glühenden Flammen der Veränderung über das Land hinwegfegen, um die Alten, die Absterbenden und die Verderbten zu verbrennen, damit aus den schwarzverkohlten Trümmern der Sünde eine neue Ordnung erwachsen kann. Haben wir die Welt erst reingebrannt, wird es keine Könige mehr geben, dafür wird Ordnung in der Welt herrschen, eine Ordnung, geschützt durch die Hand des gemeinen Mannes, für den gemeinen Mann. Erst dann wird es keinen Hunger mehr geben, kein Zittern in der Kälte, kein Leid ohne Hilfe. Das Wohl der Allgemeinheit wird über die eigensüchtigen Begehrlichkeiten des Einzelnen gestellt sein.«

Nicci wollte Gutes tun – das wollte sie wirklich. Doch seine Stimme klang für sie wie eine rostige Gefängnistür, die sich knarrend hinter ihr schloss.

Aller Augen im Zimmer waren auf sie gerichtet, um zu sehen, ob sie rechtschaffen war wie ihre Mutter. »Das klingt wunderbar, Bruder Narev.«

Er nickte. »So wird es geschehen, Kind, und du wirst dazu beitragen, dass es geschieht. Lass dich von deinen Gefühlen leiten. Du wirst eine Soldatin sein, die auf eine neue Weltordnung zumarschiert. Der Weg wird lang und steinig werden, daher musst du dir deinen Glauben stets bewahren. Wir Übrigen hier im Raum werden ihr Erblühen vermutlich nicht mehr erleben, aber vielleicht lebst du lange genug, um zu sehen, wie diese wunderbare Ordnung eines Tages Wirklichkeit wird.«

Nicci schluckte. »Ich werde dafür beten, Bruder Narev.«

11

Am nächsten Tag wurde Nicci, beladen mit einem Korb voll Brot, gemeinsam mit einer schnatternden Schar ihrer Glaubensgenossen aus der Kutsche entlassen, um auszuschwärmen und Brot an die Bedürftigen zu verteilen. Zu diesem besonderen Anlass hatte ihre Mutter sie mit ihrem roten Rüschenkleid herausgeputzt. Ihre kurzen weißen Söckchen wiesen mit rotem Faden gestickte Muster auf. Erfüllt vom Stolz, endlich Gutes zu tun, marschierte Nicci mit ihrem Brotkorb bewaffnet die abfallübersäte Straße entlang und dachte an den Tag, da man allen die Hoffnung auf eine neue Ordnung überbringen würde, damit sie sich endlich aus bitterer Not und Verzweiflung erheben konnten.

Einige Menschen bedankten sich lächelnd für das Brot, manche nahmen das Brot wortlos und ohne Lächeln entgegen, die meisten jedoch reagierten mürrisch und beschwerten sich, das Brot komme zu spät, außerdem seien die Laibe zu klein oder von der falschen Sorte. Nicci ließ sich nicht entmutigen, sie erklärte ihnen, was ihre Mutter gesagt hatte, dass dies die Schuld des Bäckers sei, weil er zuerst das Brot für seinen eigenen Gewinn backe und erst dann das für die Mildtätigkeit, da er dafür einen geringeren Preis erhalte. Nicci erklärte ihnen, dass die verderbten Leute sie als Menschen zweiter Klasse behandelten und dass die Bruderschaft der Ordnung eines Tages in diesem Land Einzug halten und dafür sorgen werde, dass alle gleich behandelt würden.

Als Nicci so die Straße entlang ging und das Brot verteilte, packte ein Mann sie am Arm und zerrte sie in den Gestank einer engen, dunklen Gasse. Sie bot ihm einen Brotlaib an, er jedoch riss ihr den Korb aus den Händen und verlangte Silber oder Gold. Nicci erklärte ihm, sie habe kein Geld. Ihr stockte vor Schreck der Atem, als er sie an sich riss. Nach einem Geldbeutel suchend, betatschte er sie von Kopf bis Fuß mit seinen schmutzigen, forschenden Fingern, nicht einmal ihre intimsten Stellen verschonte er, konnte aber nichts bei ihr finden. Er zog ihr die Schuhe aus und warf sie fort, als er sah, dass keine Münzen in ihnen versteckt waren.

Zwei wuchtige Fausthiebe trafen sie in den Magen. Nicci brach auf dem Boden zusammen. Einen deftigen Fluch in ihre Richtung speiend, stahl er sich im Schatten der Müllberge davon.

Auf ihre zitternden Arme gestützt, erbrach sich Nicci in das ölige Wasser, das unter den Abfallbergen hervorsickerte. An der Gasse vorüberkommende Passanten warfen einen Blick hinein und sahen sie würgend auf dem Erdboden liegen, schauten jedoch schnell wieder auf die Straße und gingen eilig ihres Weges. Einige sprangen kurz in die Gasse, bückten sich und sammelten das Brot aus dem umgestürzten Korb auf, bevor sie sich hastig aus dem Staub machten. Nicci keuchte, die Tränen brannten ihr in den Augen, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihre Knie bluteten, ihr Kleid war über und über mit Kot bespritzt.