»Ich habe Bedürftige hier, Schwester Alessandra.« Nicci erschrak über ihre Tränen. »Ich bin für sie verantwortlich. Tut mir Leid, aber ich kann sie nicht im Stich lassen.«
In diesem Augenblick kam ihr Vater zur Tür herein. Linkisch blieb er stehen, die Beine mitten im Schritt erstarrt, die Hand auf dem Türgriff, und schaute die Schwester an.
»Was geht hier vor?«
Niccis Mutter erhob sich. »Howard, das ist Alessandra, sie ist eine Schwester des Lichts. Sie ist gekommen, um…«
»Nein! Das lasse ich nicht zu, hörst du! Nicci ist unsere Tochter, die Schwestern können sie nicht bekommen.«
Schwester Alessandra erhob sich und warf Niccis Mutter einen heimlichen Seitenblick zu. »Bittet Euren Mann zu gehen. Diese Angelegenheit betrifft ihn nicht.«
»Betrifft mich nicht? Sie ist meine Tochter! Ihr werdet sie nicht mitnehmen!«
Er machte einen Satz nach vorn, um Niccis ausgestreckte Hand zu packen. Die Schwester hob einen Finger, woraufhin er, zu Niccis Überraschung, inmitten eines funkensprühenden Lichtblitzes zurückgeschleudert wurde. Ihr Vater krachte mit dem Rücken gegen die Wand, rutschte nach unten, fasste sich an die Brust und rang nach Atem. Nicci brach in Tränen aus und wollte zu ihm laufen, doch Schwester Alessandra packte ihren Arm und hielt sie zurück.
»Howard«, presste Niccis Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »die Erziehung des Kindes ist allein meine Angelegenheit. Ich bin es, die die Gabe des Schöpfers in sich trägt. Als unsere Vermählung ausgehandelt wurde, hast du mir dein Wort gegeben, dass es, falls wir ein Mädchen bekommen und es die Gabe hat, ganz allein mir überlassen sein würde, sie nach meinem Gutdünken zu erziehen. Ich bin überzeugt, dies ist genau das Richtige für sie – und entspricht dem Wunsch des Schöpfers. Bei den Schwestern wird sie Gelegenheit haben, das Lesen zu lernen. Sie wird Gelegenheit haben, zu lernen, ihre Gabe zum Wohl der Menschen einzusetzen, wie dies nur Schwestern können. Du wirst dein Wort halten, dafür werde ich schon sorgen. Im Übrigen bin ich sicher, dass du noch zu tun hast und unverzüglich wieder an die Arbeit musst.«
Er rieb sich mit der flachen Hand die Brust, und gesenkten Hauptes schlurfte er zur Tür. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, kreuzte sich sein Blick mit Niccis. Durch ihre Tränen sah sie ein Funkeln in seinen Augen, so als habe er ihr noch etwas mitzuteilen, doch dann war es erloschen, und er zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Schwester Alessandra meinte, es sei wohl das Beste, wenn sie sofort aufbrächen und Nicci ihn eine Weile nicht sähe. Sie versprach, Nicci werde ihn Wiedersehen – vorausgesetzt, sie hielt sich an die Anweisungen und lernte erst einmal Lesen und ihre Gabe zu gebrauchen.
Nicci lernte sowohl das eine wie das andere und meisterte auch all die anderen Dinge, die man von ihr erwartete. Sie erfüllte sämtliche Anforderungen und tat, was man von ihr verlangte. Ihr Leben als Novizin, aus der einmal eine Schwester des Lichts werden sollte, war selbstlos bis zur Stumpfsinnigkeit. Schwester Alessandra vergaß ihr Versprechen. Als sie daran erinnert wurde, war sie alles andere als erfreut und fand noch mehr Arbeit, die Nicci zu erledigen hatte.
Mehrere Jahre, nachdem sie in den Palast gebracht worden war, sah Nicci Bruder Narev wieder. Sie begegnete ihm ganz zufällig; er arbeitete als Stallbursche im Palast der Propheten. Die Augen fest auf sie geheftet, lächelte er sein bedächtiges Lächeln und sagte, ihr Beispiel habe ihn auf den Gedanken gebracht, den Palast der Propheten aufzusuchen. Er wolle, so erzählte er, noch miterleben, wie die Ordnung in der Welt Einzug hielt.
Sie fand, für jemanden wie ihn war dies eine seltsame Beschäftigung. Er habe erkannt, entgegnete er, dass es sittlich höher stehend sei, für die Schwestern zu arbeiten, als seine Arbeitsleistung in den Dienst gottlosen Profits zu stellen, und fügte hinzu, es spiele keine Rolle, falls sie beschließen sollte, jemandem im Palast von ihm oder seiner Arbeit für die Bruderschaft zu erzählen. Trotzdem bat er sie, den Schwestern nicht zu verraten, dass er die Gabe besaß, denn wenn sie davon erführen, würden sie ihm nicht erlauben, zu bleiben und in den Stallungen zu arbeiten, und falls sie seine Gabe entdeckten, müsste er es ablehnen, ihnen zu dienen, da er dem Schöpfer auf seine eigene stille Weise dienen wolle.
Nicci respektierte sein Geheimnis, nicht so sehr aus Loyalität, sondern hauptsächlich, weil sie viel zu sehr von ihren Studien und ihrer Arbeit in Anspruch genommen war, um sich mit Bruder Narev und seiner Bruderschaft zu befassen. Sie hatte selten Gelegenheit ihn zu sehen, wenn er die Pferdeställe ausmistete, und da seine Bedeutung während ihrer Kindheit allmählich mit ihrer Vergangenheit verschmolz, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihn. Im Palast gab es Arbeit, der sie, so wünschte man, ihre Aufmerksamkeit widmen sollte – im Wesentlichen die gleiche Art von Arbeit, die auch Bruder Narev gutgeheißen hätte. Erst viele Jahre später sollte sie hinter die wahren Gründe für seinen Aufenthalt im Palast kommen.
Schwester Alessandra sorgte dafür, dass Nicci stets beschäftigt war. Für so eigensüchtige Schwächen wie einen Besuch zu Hause gewährte man ihr keine Zeit. Siebenundzwanzig Jahre, nachdem man sie verschleppt hatte, um eine Schwester des Lichts zu werden, und immer noch als Novizin, sah Nicci ihren Vater wieder. Es war bei seinem Begräbnis.
Niccis Mutter hatte sie benachrichtigt, sie möge heimkommen und ihren Vater besuchen, da es um seine Gesundheit nicht zum Besten stehe. Nicci eilte in Begleitung von Schwester Alessandra unverzüglich nach Hause, doch bei ihrem Eintreffen war ihr Vater bereits tot.
Ihre Mutter erzählte, er habe sie mehrere Wochen lang angefleht, nach seiner Tochter zu schicken. Seufzend gestand sie, sie habe es in dem Glauben hinausgezögert, er werde sich schon wieder erholen. Außerdem, so fügte sie hinzu, habe sie Niccis wichtige Arbeit nicht behindern wollen – nicht wegen einer so unbedeutenden Angelegenheit. Angeblich sei es das Einzige gewesen, um das er sie gebeten hatte: Nicci wiederzusehen. Ihre Mutter fand das albern, schließlich machte er sich nichts aus Menschen. Warum sollte er das Bedürfnis haben, jemanden wiederzusehen? Er starb allein, während ihre Mutter unterwegs war, um den Opfern einer gleichgültigen Welt beizustehen.
Zu dieser Zeit war Nicci vierzig. Ihre Mutter aber, die Nicci immer noch als junges Mädchen sah, weil sie unter dem Bann im Palast gerade so weit gealtert war, dass sie wie fünfzehn oder sechzehn wirkte, befahl ihr, ein hübsches Kleid in leuchtenden Farben anzuziehen, denn schließlich handele es sich nicht um einen wirklich traurigen Anlass.
Lange stand Nicci vor dem Leichnam und betrachtete ihn. Die Gelegenheit, noch einmal seine blauen Augen zu sehen, war für immer dahin. Zum ersten Mal seit Jahren ließ der Schmerz sie tief in ihrem Innern etwas fühlen. Es tat gut, endlich wieder etwas zu fühlen, selbst wenn es ein Schmerz war.
Während Nicci das eingefallene Gesicht ihres Vaters betrachtete, erklärte Schwester Alessandra, es tue ihr Leid, dass sie sie fortbringen müsse, aber in ihrem ganzen Leben sei sie keiner Frau begegnet, bei der die Gabe so stark ausgeprägt gewesen sei wie bei Nicci, und ein solches Geschenk des Schöpfers dürfte man nicht ungenutzt lassen.
Nicci sagte, sie verstehe. Da sie ein Talent besitze, sei es nur rechtens, dass sie es benutzte, um den Bedürftigen zu helfen.
Im Palast der Propheten galt Nicci als uneigennützigste, fürsorglichste Novizin im gesamten Haus. Alle zeigten sie mit dem Finger auf sie und befahlen den jüngeren Novizinnen, sich an Nicci ein Beispiel zu nehmen. Selbst die Prälatin hatte sie bereits lobend erwähnt.
Das Lob war in ihren Ohren nichts weiter als Gerede, es kam einer Ungerechtigkeit gleich, besser zu sein als andere. So sehr sie sich auch bemühte, Nicci konnte dem Vermächtnis ihres Vaters, besser sein zu wollen als andere, nicht entkommen. Sein verderblicher Einfluss floss durch ihre Adern, drang aus jeder Pore und verpestete alles, was sie tat. Je selbstloser sie wurde, desto mehr bestätigte dies ihre Überlegenheit und damit ihre Schlechtigkeit.