Sie war sich darüber im Klaren, dass dies nur eins bedeuten konnte: Sie war böse.
»Versuche, ihn nicht so in Erinnerung zu behalten«, sagte Schwester Alessandra nach einer langen Schweigepause, als sie vor dem Leichnam standen. »Versuche dich zu erinnern, wie er war, als er noch lebte.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Nicci. »Als er noch lebte, habe ich ihn nicht gekannt.«
Ihre Mutter übernahm das Geschäft gemeinsam mit ihren Freunden aus der Bruderschaft. Sie schrieb Nicci freudige Briefe, in denen sie berichtete, sie habe zahlreichen Bedürftigen in der Waffenschmiede Arbeit gegeben; bei all dem Reichtum, der sich dort angehäuft habe, könne sich der Betrieb das leisten. Ihre Mutter war stolz, dass dieser Reichtum jetzt einem wohltätigen Zweck zugeführt werden konnte. Sie schrieb, insgeheim sei der Tod des Vaters ein Segen, denn er bedeute endlich Hilfe für die, die sie am meisten verdienten. Alles sei Teil des Planes des Schöpfers, schrieb sie.
Um all den Menschen, denen sie Arbeit gegeben hatte, ihre Löhne auszahlen zu können, war ihre Mutter gezwungen, die Preise zu erhöhen. Viele der älteren Arbeiter kündigten. Niccis Mutter behauptete, sie sei froh, dass sie fort waren, denn sie hätten eine unkooperative Einstellung.
Die Aufträge gingen zurück. Immer mehr Zulieferer bestanden darauf, vor Auslieferung der Waren bezahlt zu werden. Niccis Mutter setzte die Prüfung der Waren aus, weil die neuen Arbeiter sich beklagten, es sei ungerecht, einen solchen Standard aufrechtzuerhalten. Sie sagten, sie täten ihr Bestes, und das allein zähle. Niccis Mutter zeigte Verständnis. Die Schlagmühle musste verkauft werden. Einige der Kunden zogen ihre Bestellungen für Waffen und Rüstungen zurück. Niccis Mutter behauptete, ohne diese intoleranten Menschen ginge es ihnen finanziell besser. Sie ersuchte den Herzog um neue Gesetze und verlangte, die Arbeit müsse gleichmäßig verteilt werden, aber diese Gesetze ließen auf sich warten. Die wenigen verbliebenen Kunden hatten eine Zeit lang ihre Rechnungen nicht beglichen, versprachen aber, dies nachzuholen. In der Zwischenzeit wurden ihre Waren ausgeliefert, wenn auch mit Verspätung.
Innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod von Niccis Vater ging der Betrieb bankrott; das ungeheure Vermögen, das er ein Leben lang angehäuft hatte, war zerronnen.
Einige der ausgebildeten Arbeiter, die einst von Niccis Vater eingestellt worden waren, zogen weiter, in der Hoffnung, an entlegenen Orten Arbeit in einer Waffenschmiede zu finden. Die meisten Männer, die blieben, fanden nur niedere Arbeit; und selbst dann konnten sie noch von Glück reden. Viele der neuen Arbeiter verlangten, Niccis Mutter müsse etwas unternehmen, woraufhin sie und die Bruderschaft bei anderen Betrieben nachsuchten, sie zu übernehmen. Einige Betriebe versuchten zu helfen, die meisten waren jedoch nicht in der Lage, zusätzliche Arbeiter einzustellen.
Die Waffenschmiede war der größte Arbeitgeber der Region gewesen; andere Betriebe, darunter Handelsbetriebe, kleinere Zulieferer und Transportunternehmen, die von der Waffenschmiede abhängig gewesen waren, gingen aus Mangel an Aufträgen Pleite. Geschäfte in der Stadt, vom Bäcker bis hin zum Schlachter, verloren Kunden und waren gezwungen, Arbeiter zu entlassen.
Niccis Mutter bat den Herzog, mit dem König zu sprechen. Der Herzog erwiderte, der König denke bereits über das Problem nach.
Als die Menschen die Stadt verließen, um woanders in aufstrebenden Städten Arbeit zu finden, mussten neben der Waffenschmiede von Niccis Vater auch andere Gebäude aufgegeben werden. Auf Drängen der Bruderschaft übernahmen Hausbesetzer viele der leer stehenden Häuser. Die verlassenen Gebäude wurden zum Schauplatz von Raubüberfällen und sogar Morden, und manch eine Frau, die sich in die Nähe dieser Orte wagte, sollte dies bedauern. Niccis Mutter konnte die Waffen aus der geschlossenen Waffenschmiede nicht verkaufen, daher verteilte sie sie an die Bedürftigen, damit diese sich selbst schützen konnten. All ihren Bemühungen zum Trotz stieg die Kriminalität nur noch weiter an.
Als Anerkennung für ihre guten Werke und die Dienste, die ihr Vater für die Regierung geleistet hatte, bewilligte der König Niccis Mutter eine Pension, die es ihr erlaubte, bei eingeschränktem Personal in ihrem Haus wohnen zu bleiben. Sie setzte ihre Arbeit für die Bruderschaft fort und versuchte all die Ungerechtigkeiten auszuräumen, die ihrer Ansicht nach für das Scheitern des Betriebs verantwortlich waren. Sie hoffte, das Geschäft eines Tages wieder zu eröffnen und Leute einzustellen. Der König belohnte sie für ihre rechtschaffene Arbeit mit einer silbernen Medaille. Niccis Mutter schrieb, der König habe öffentlich erklärt, noch nie einen Menschen gesehen zu haben, der einer Fleisch gewordenen Guten Seele so nahe gekommen sei; Nicci erhielt des Öfteren Nachricht von irgendwelchen Auszeichnungen, die ihre Mutter für ihr uneigennütziges Werk verliehen bekam.
Als ihre Mutter achtzehn Jahre später starb, sah Nicci immer noch aus wie eine junge Frau von vielleicht siebzehn Jahren. Sie wünschte sich ein elegantes schwarzes Kleid, um es zu ihrer Beerdigung zu tragen – das eleganteste, das man bekommen konnte. Der Palast befand, eine solche Bitte stehe einer Novizin nicht gut zu Gesicht und komme nicht in Frage. Es hieß, man werde ihr nur schlichte, bescheidene Kleidung zur Verfügung stellen.
Als Nicci zu Hause eintraf, suchte sie den Schneider des Königs auf und erklärte ihm, sie benötige für das Begräbnis ihrer Mutter das eleganteste schwarze Kleid, das er je angefertigt habe. Er nannte ihr den Preis. Sie teilte ihm mit, dass sie kein Geld besäße, das Kleid aber trotzdem brauche.
Der Schneider, ein Mann mit Dreifachkinn, schmalzigem, aus den Ohren wucherndem Flaum, unnatürlich langen, gelblichen Fingernägeln und einem unmissverständlich lüsternen Feixen, erwiderte, auch er brauche gelegentlich gewisse Dinge. Er beugte sich zu ihr, ihren weichen Arm in seinen knotigen Fingern, und ließ durchblicken, er werde, wenn sie sich seiner Bedürfnisse annehme, bei ihr das Gleiche tun.
Bei der Beerdigung ihrer Mutter trug Nicci das eleganteste schwarze Kleid, das jemals angefertigt worden war.
Ihre Mutter hatte ihr ganzes Leben den Bedürfnissen anderer gewidmet. Nie wieder würde Nicci sich darauf freuen können, in ihre kakerlakenbraunen Augen zu blicken. Anders als bei der Beerdigung ihres Vaters verspürte Nicci keinen Schmerz, der sich in ihren Körper hineinbohrte, um jene unergründliche Stelle in ihrem Innern zu berühren. Nicci war sich im Klaren, dass sie ein fürchterlicher Mensch war.
Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es sie aus irgendeinem Grund nicht länger scherte.
Von jenem Tag an trug Nicci keine andere Farbe mehr als Schwarz.
Einhundertundzwanzig Jahre später sah Nicci – am Geländer stehend, das den großen Saal umrahmte – in ein Augenpaar, aus dem ihr ein Gespür für innere, lieb gewonnene Werte entgegenschaute, und war überwältigt. Doch was in den Augen ihres Vaters nur ein unsicheres Glimmen gewesen war, loderte in Richards Augen wie ein gewaltiges Feuer. Was es war, wusste sie noch immer nicht.
Sie wusste nur, dass es den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte und dass sie diesen Mann vernichten musste.
Jetzt, endlich, wusste sie auch, wie.
Hätte doch nur jemand, als sie noch klein war, ihrem Vater diese Gnade erwiesen.
12
Während Nicci zu Fuß die Straße zwischen dem Stadtrand von Fairfield und jenem Anwesen entlang wanderte, wo Jagang, wie ihr die drei Schwestern verraten hatten, seinen Wohnsitz genommen hatte, glitt ihr Blick suchend über das Durcheinander des umliegenden Feldlagers der Imperialen Ordnung. Sie wusste, irgendwo hier in diesem Abschnitt mussten sie sein; Jagang hatte sie gerne in seiner unmittelbaren Nähe. Reguläre Schlafzelte, Karren und Soldaten bedeckten, einer schwarzen Rußschicht gleich, Felder und Hügel, so weit das Auge reichte. Ein schmutziger, trüber Schatten schien sich über Himmel und Land gleichermaßen gelegt zu haben. Überall auf den dunklen Feldern leuchteten Lagerfeuer wie ein Himmel voller Sterne.