Cara nahm ihre Aufgabe, Richard – den Lord Rahl von D’Hara – zu beschützen, überaus ernst. Wenn es um Richards Leben ging, war Cara jederzeit bereit, erst zu töten und hinterher zu entscheiden, ob es erforderlich gewesen war. Dies war eines der Dinge, für die Richard keine Toleranz aufbrachte.
Als Antwort lächelte Kahlan nur.
»Mutter Konfessor, Ihr könnt doch unmöglich zulassen, dass Lord Rahl sich dem Willen derart törichter Männer beugt. Erteilt ihm den Befehl.«
Kahlan konnte die Menschen, die sie ihr ganzes Leben mit dem Namen ›Kahlan‹ angesprochen hatten, ohne wenigstens den Titel ›Konfessor‹ voranzustellen, wahrscheinlich an den Fingern einer Hand abzählen. Ihren endgültigen Titel – Mutter Konfessor – hatte sie zahllose Male gesprochen gehört, wobei der Tonfall von ehrfürchtiger Ergebenheit bis hin zu bebender Angst reichte. Sobald sie vor ihr niederknieten, waren viele Menschen völlig außer Stande, die beiden Worte ihres Titels zwischen zitternden Lippen hervorzubringen. Andere wiederum flüsterten sie, wenn sie allein waren, in mörderischer Absicht.
Kahlan war bereits mit Anfang zwanzig zur Mutter Konfessor ernannt worden – und damit die jüngste aller auf diesem mächtigen Posten berufenen Konfessoren. Doch das lag mehrere Jahre zurück, jetzt war sie die einzige noch lebende.
Kahlan hatte den Titel, das Verbeugen und Niederknien, die Ehrerbietung, die fast heilige Scheu, die Angst und die mörderischen Absichten stets über sich ergehen lassen, denn sie hatte gar keine andere Wahl. Mehr als das jedoch war sie die Mutter Konfessor – aufgrund von Erbfolge und Auslese, von Rechts wegen, durch ihren Schwur und aus Pflichtbewusstsein.
Cara hatte Kahlan stets mit ›Mutter Konfessor‹ angesprochen, doch bei Cara klangen diese Worte anders als bei anderen Menschen. Sie hatten fast etwas Herausforderndes, durch übertriebene Unterwürfigkeit leicht Trotziges, und doch schwang stets ein Anflug liebevollen Schmunzelns mit. Aus Caras Mund klangen sie für Kahlan nicht so sehr wie ›Mutter Konfessor‹, sondern eher wie ›Schwester‹. Cara stammte aus dem fernen Land D’Hara, mit Ausnahme des Lord Rahl stand in Caras Augen niemand nirgendwo im Rang höher als sie selbst. Ihr größtes Zugeständnis bestand darin, dass sie Kahlan in ihrer Pflicht gegenüber Richard als ebenbürtig betrachtete. Von Cara als ebenbürtig angesehen zu werden, war allerdings eine überaus große Ehre.
Wenn aber Cara Richard mit ›Lord Rahl‹ ansprach, schwang dabei nichts von einem ›Bruder‹ mit. Dann sprach sie genau das aus, was sie meinte: Lord Rahl.
Für die Männer mit den aufgebrachten Stimmen war der Titel eines Lord Rahl eine ebenso fremdartige Vorstellung wie das ferne Land D’Hara selbst. Kahlan stammte aus den Midlands, die D’Hara von Westland trennten. Die Menschen hier in Westland wussten weder etwas von den Midlands noch von der Mutter Konfessor. Jahrzehntelang waren die drei Bestandteile der Neuen Welt durch unüberwindbare Grenzen voneinander getrennt gewesen, dadurch war alles, was jenseits dieser Grenzen lag, mit einem Schleier des Geheimnisvollen umgeben. Erst im vergangenen Herbst waren diese Grenzen gefallen.
Im darauf folgenden Winter war schließlich auch die gemeinsame Barriere im Süden der drei Länder durchbrochen worden, die mehr als dreitausend Jahre lang die Gefahr der Alten Welt hermetisch ausgegrenzt hatte, was die Imperiale Ordnung auf den Plan gerufen hatte. Im vergangenen Jahr war die Welt in Aufruhr versetzt worden; alles, womit die Menschen aufgewachsen waren, hatte sich verändert.
»Ich werde nicht zulassen, dass Ihr Menschen Schaden zufügt, nur weil sie sich weigern, uns zu helfen«, sagte Richard an Cara gewandt. »Damit wäre nichts gewonnen, und am Ende würden wir uns damit nur noch zusätzliche Schwierigkeiten einhandeln. Was wir hier zu errichten begonnen haben, hat nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hatte geglaubt, dieser Ort sei sicher, doch ist dies leider nicht der Fall. Also werden wir einfach weiterziehen.«
Er kehrte Kahlan den Rücken zu; allmählich wich die Erregung aus seiner Stimme.
»Ich hatte gehofft, dich nach Hause zu bringen, an einen Ort des Friedens und der Ruhe, doch wie es scheint, bin ich selbst zu Hause nicht willkommen. Tut mir Leid.«
»Das trifft doch nur auf diese Männer zu, Richard.« Die Bevölkerung Anderiths hatte, unmittelbar bevor Kahlan überfallen und zusammengeschlagen worden war, Richards Angebot abgelehnt, sich dem aufstrebenden d’Haranischen Reich anzuschließen, das er in die Freiheit führen wollte. Stattdessen hatte sich das Volk von Anderith bereitwillig auf die Seite der Imperialen Ordnung geschlagen. Es schien, als habe Richard Kahlan zur Frau genommen und alles andere im Stich gelassen. »Was ist mit deinen wahren Freunden hier?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen … erst wollte ich einen Unterschlupf bauen. Jetzt ist dafür keine Zeit. Vielleicht später.«
Kahlan langte nach der an seiner Seite herabhängenden Hand. Seine Finger waren zu weit entfernt. »Aber Richard…«
»Hör zu, es ist nicht mehr sicher, hier zu bleiben. So einfach ist das. Ich habe dich hierher gebracht, weil ich dachte, hier könntest du dich in aller Ruhe erholen und wieder zu Kräften kommen. Ich habe mich getäuscht, dem ist nicht so. Wir können nicht hier bleiben. Verstehst du das?«
»Ja, Richard.«
»Wir müssen weiterziehen.«
»Ja, Richard.«
Die Angelegenheit hatte noch einen weiteren Aspekt, das wusste sie – etwas, das sehr viel wichtiger war als die unmittelbare Tortur, die das für sie bedeutete. Sie hatte einen entrückten, besorgten Blick in den Augen.
»Aber was ist mit dem Krieg? Alle zählen auf uns – auf dich. Bis ich mich wieder erholt habe, kann ich keine große Hilfe sein, aber dich brauchen sie sofort. Das d’Haranische Reich braucht dich. Du bist Lord Rahl, du bist ihr Anführer. Was tun wir hier? Richard…« Sie wartete, bis er den Kopf drehte und sie ansah. »Warum ergreifen wir die Flucht, wenn alle auf uns zählen?«
»Ich tue, was ich tun muss.«
»Was du tun musst? Was soll das heißen?«
Ein dunkler Schatten fiel über sein Gesicht, als er sich abwandte.
»Ich hatte … eine Vision.«
2
»Eine Vision?«, fragte Kahlan mit unverhohlenem Erstaunen.
Richard verabscheute alles, was mit Prophezeiungen zu tun hatte; sie hatten ihm stets nichts als Ärger eingebracht.
Prophezeiungen waren immer zweideutig und für gewöhnlich rätselhaft, egal, wie eindeutig sie nach außen hin erschienen. Ungeübte ließen sich leicht von ihrer oberflächlich einfachen Struktur in die Irre führen. Das gedankenlose Festhalten an der wortwörtlichen Auslegung von Prophezeiungen hatte in der Vergangenheit zu gewaltigen Unruhen geführt, angefangen von Mord bis hin zu Krieg. Wer mit Prophezeiungen befasst war, scheute infolgedessen keine Mühe, diese geheim zu halten.
Prophezeiungen bedeuteten Vorherbestimmtsein, zumindest auf den ersten Blick. Richard dagegen war der Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal selbst in der Hand hatte. Einmal hatte er zu ihr gesagt: »Eine Prophezeiung vermag lediglich vorherzusagen, dass morgen die Sonne aufgehen wird, aber was du mit diesem Tag anfangen wirst, kann sie dir nicht sagen. Der Vorgang, seinem Tagwerk nachzugehen, hat nichts mit der Erfüllung von Prophezeiungen zu tun, sondern mit dem Erreichen persönlicher Ziele.«
Die Hexe Shota hatte vorhergesagt, Richard und Kahlan würden einen unehelichen Sohn bekommen. Mehr als ein Mal hatte Richard nachgewiesen, dass Shotas Sicht der Zukunft wenn nicht auf verhängnisvolle Weise fehlerhaft, so doch zumindest weitaus vielschichtiger war, als Shota dies erscheinen lassen wollte. Kahlan war ebenso wenig wie Richard bereit, Shotas Vorhersage einfach hinzunehmen.
Bei einer Reihe von Gelegenheiten hatte sich Richards Ansicht über Prophezeiungen als korrekt erwiesen. Richard ignorierte die Aussage einer Prophezeiung schlicht und tat, was er glaubte tun zu müssen. Oft erfüllte sich die Prophezeiung durch sein Handeln, wenn auch auf unvorhersehbare Weise. Somit wurde die Prophezeiung gleichzeitig bewiesen und widerlegt, was nichts klärte und lediglich unterstrich, welch unergründliches Rätsel sie in Wahrheit darstellte.